Anlässlich meiner Lesung am 11. Dezember 2025 in der Stadtteilbücherei St. Michael in Münster-Gievenbeck habe ich eine Weihnachtsgeschichte über den Kometen Halley verfasst. Viel Vergnügen damit!
Komet Halley
Vor Giottos Wandgemälde in der Arenakapelle in Padua fällt Eduard mit gefalteten Händen auf die Knie, um sich bei seinem Schöpfer – oder ist es, wie Nicoletta behauptet, eine Schöpferin? – zu bedanken. Er ist körperlich inzwischen gealtert, realisierte dies aber nie so richtig, da Eduard mit mönchischem Gleichmut seiner Tätigkeit als Astronom nachging. Auf diese Weise schwimmt er weiterhin in einem geistigen Jungbrunnen.
„Siehst du, Papa“, spricht Nicoletta und zwinkert ihm zu, „jetzt hast du doch noch eine weitere große Liebe gefunden…“
Seine bildhübsche Tochter, der Schauspielerin Claudia Cardinale wie aus dem Gesicht geschnitten, neckt Sir Eduard Mignon, ihren zwar weltberühmten, aber lange Jahre wie ein Eremit lebenden Vater allzu gern.
„Erzähl, Papa, ist sie eine Kollegin?“
Eduard, von Queen Elizabeth II. zum Ritter geschlagen, winkt ab, um Nicoletta zu herzen und zu kitzeln.
„Lass, lass“, kreischt sie ausgelassen.
„Du führst dich auf wie eine Vierzehnjährige“, kommentiert Eduard ihr Gebaren.
„Und wenn schon! Wer ist sie? Wer ist diese Frau?“
„Nun“, gibt sich Eduard geheimnisvoll, „du, ihr, werdet sie beim Weihnachtsessen kennenlernen.“
„Mach es doch nicht so spannend!“
Eduard ahmt mit seinen Fingern das Schließen eines Schlosses vor seinem Mund nach, und wirft den ebenso eingebildeten Schlüssel mit einer rigiden Geste fort.
„Du schweigst wie ein Grab…“, moniert Nicoletta lächelnd, „das kenne ich schon.“
Wie oft hatte er ihr bereits diese atemberaubende Darstellung der das Christuskind anbetenden Könige erläutert! Wie oft hatten sie hier stundenlang auf den kühlen Holzbänken gesessen, um sich den sagenhaften Bilderzyklus des Künstlers Giotto anzuschauen.
„Erzähl mir noch einmal die Geschichte von den drei weisen Königen, so wie früher, Papa“. Wie oft war seine Tochter mit dieser Bitte an ihn herangetreten! Auch heute kam er ihr nach:
„Die drei Weisen waren eigentlich keine Könige, sondern Sternendeuter…“
„…so wie du selbst!“
„Genau, aber lass mich weitererzählen.“
„Entschuldige.“
„Sie hatten von jenem astronomischen Wunder gehört, einem Stern, welcher der Erde so nahe kam, dass man ihn mit dem bloßen Auge zu sehen vermochte. So kamen Caspar, Melchior und Balthasar aus dem Osten, und trafen sich in Bethlehem, wo der Stern am hellsten strahlte.“
„Und hier bezeugte das Trio ein von dem Stern angekündigtes Wunder…“
„Die Geburt Christi, ganz genau.“
„Der Stern, der später als Komet Halley identifiziert wurde, lockte die Weisen aus dem Morgenland demnach an und führte sie zu dem Stall, wo Maria das Kind zur Welt gebracht hatte.“
Eduard und seine Tochter Nicoletta flüstern, da in der Kapelle eigentlich nicht gesprochen werden darf.
„Wir sollten das Fresko nun still betrachten und uns dann draußen, bei den Pinienbäumen, weiterunterhalten.“
Zwar verfügt Eduard als weltberühmter Astronom über die Erlaubnis, die Arenakapelle jederzeit betreten zu dürfen. Aber auch er muss sich an die Regeln halten. Denn beim Ausatmen wird Kohlendioxid freigesetzt, welches die aus der Frührenaissance stammenden Fresken schädigt. Auch die hohe Luftfeuchte setzt den Werken Giottos zu.
Schweigend sieht sich Nicoletta das Fresko der Anbetung der Könige an, ihr Lieblingsbild. Giotto war dafür bekannt, ein intensives Lapislazuliblau zu verwenden, weiß sie. Er kombinierte es mit Blattgold, wie ihr Eduard bereits als Kind beibrachte. Dieser starke visuelle Kontrast wurde zu Giottos Markenzeichen.
Ihr Vater Eduard erklärte Nicoletta einst, dass der Künstler jene Farben symbolisch nutzte, um die himmlische Herrlichkeit und die göttliche Nähe der Jungfrau Maria zu betonen. Im Mittelalter stand das blaue Gewand Mariens symbolisch für ihre himmlische Verbindung, während ein goldener Hintergrund die Herrlichkeit Gottes repräsentierte.
Auch Eduard betrachtet das Fresko eingehend. Immer wieder beeindruckt ihn die Darstellung des Sterns von Bethlehem, der oberhalb des Stalldachs zu sehen ist. Giotto war allein deshalb ein Genie, sinniert der Astronom, weil er das Erscheinen des Kometen Halley am Himmel im Jahre 1301 zum Weihnachtssymbol umdeutete.
Nicoletta nickt ihrem Vater zu, und sie treten ins Freie. Es ist besonders kühl an diesem Heiligen Abend, deshalb unternehmen die beiden nur einen kurzen Spaziergang. Leichte Böen fahren durch einen Pinienhain. Die immergrünen Nadeln der nach Harz duftenden Gewächse strotzen der Kälte.
„Meinst du, Giotto wusste, dass es sich bei dem Kometen nicht um den Stern von Bethlehem handeln konnte?“
„Ich denke schon“, erwidert Eduard nachdenklich.
„Dann ist es umso erstaunlicher, dass er den Schweifstern in sein Werk integrierte, vermutlich als Symbol der Hoffnung.“
Eduard, der in diesem Jahr das traditionelle Weihnachtsessen ausrichtet, ist ein wenig nervös, weil Monica, seine neue Partnerin, zugegen sein wird.
Monica, Dozentin für Philosophie in Mailand, ist in seinen Augen das intelligenteste und anmutigste Geschöpf, dem er je begegnete. Ihr allein war gelungen, was weder Nicoletta noch sein bester Freund Jake geschafft hatten. Professoressa Malente hatte Eduard aus dem Turm geholt, in dem er einsiedlerisch gehaust hatte. Dieser buchstäbliche, mit einer Sternwarte ausgestattete Elfenbeinturm hatte Eduard dazu gedient, darüber hinwegzukommen, dass Franca, die Mutter Nicolettas und seine damalige Frau, ihn verlassen hatte. Es war nicht zu einem Streit gekommen. Keineswegs. Es hatte sich eher um ein langsames Auseinanderdriften gehandelt. Denn Eduard widmete sein gesamtes Dasein der Wissenschaft.
„Papa, du bist schräg“, hatte seine damals pubertierende Tochter manchmal zu ihm gesagt, wenn sie den Gelehrten in seinem am Gardasee gelegenen Turm besuchte. Nicoletta war immer gern in die Zwillingsstadt Toscolona Maderno gekommen, um dort mehrere Tage mit ihrem Vater im Observatorium zuzubringen. Vorausschauend hatte der Teenager schon damals gewarnt: „Kümmere dich um maman! Sonst läuft sie dir eines Tages davon.“
Denn Franca Ferrante, die Eduards Familiennamen Mignon nie angenommen hatte, langweilte sich an seiner Seite, war sie doch vor der Geburt ihrer Tochter aus der Kanzlei ausgeschieden, die sie einst mit einem Anwaltskollegen gegründet hatte. Seither betrieb Franca eine Praxis für Homöopathie.
„Ich weiß, dein Vater ist der gutmütigste und edelste Mann, den wir kennen“, legte Franca ihrer Tochter Nicoletta dar, „aber er interessiert sich einfach nicht genug für mich. Ob das für dich ebenfalls gilt, musst du selbst herausfinden.“
Nicoletta, die das Weihnachtsfest des Jahres 2015 erstmalig in separaten Häusern hatte feiern müssen, litt sehr unter jener Scheidung, liebte sie ihre Eltern doch in gleichen Maßen. Heiligabend besuchte sie fortan Eduard in seinem Turm. Am Weihnachtstag war sie dann bei ihrer Mutter.
Unter dem Schutz des dichten Daches aus Piniennadeln flanieren Eduard und Nicoletta.
„Diese Welt ist voller Grauen, Krisen und Kriegen, deshalb ist es so wichtig, den Menschen Hoffnung zu geben. Das wussten wahre Künstlerinnen und Kunstschaffende schon immer. Und all das tiefe Blau und das schillernde Gold in der Kapelle lässt uns aufatmen, für einen Moment.“
„In der Tat“, erwidert Eduard und nimmt seine Tochter in den Arm. Wie elegant sie aussieht! Wie ein Filmstar aus den 1960ern. Nicoletta ähnelt ihrer Mutter Franca sehr. Hellgrüne, durchscheinende Iris und gefleckte Pupillen lassen ihre und Francas Augen wie explodierende Himmelskörper wirken. Und das kann kein Zufall sein, geht es Eduard durch den Kopf, als er sie beobachtet. Die Arenakapelle, hier in Padua, eine zweistündige Autofahrt von seinem Observatorium am Gardasee entfernt, bedeutet Tochter und Vater alles. Sie haben es sich zur lieben Gewohnheit werden lassen, jedes Jahr zu Weihnachten hierher zu kommen, um der Christmesse beizuwohnen. Dieses Jahr, seit einem Jahrzehnt der erste, an der auch seine geschiedene Frau wieder teilnimmt, zelebrieren sie den Gottesdienst allerdings in Toscolano Maderno, aus Rücksichtnahme auf Eduards alte Mutter. Dadurch, dass Eduard Monica Malente, die an der Mailänder Universität tätige Philosophin, zu lieben lernte, waren die Spannungen zwischen den Geschiedenen verschwunden. Beinahe. Vor Giottos Darstellung der das Jesuskind anbetenden Könige hatte die Familie Mignon-Ferrante im Laufe der Jahre vielerlei Emotionen freien Lauf gelassen, weil sie in der Kapelle ganz unter sich sein durfte. Meldete die Familie ihr Kommen an, wurde das Gotteshaus so bald wie möglich für Touristen gesperrt.
Sir Eduard Mignon war zwar nicht der erste Astronom gewesen, der gezeigt hatte, dass Giottos Stern von Bethlehem nichts anderes war als eine originelle Interpretation jenes Kometen, dessen regelmäßige Wiederkehr erstmals im Jahre 1705 nachgewiesen wurde. Jedoch hatte er in Zusammenarbeit mit seinem besten Freund Jake Gordon Smith, einem Kunsthistoriker, eine bahnbrechende Studie über den Kometen Halley veröffentlicht. Smith und er selbst hatten Darstellungen des Schweifsterns in verschiedenen Kunstwerken untersucht, und waren zu dem Schluss gekommen, dass er bereits in ägyptischer Keilschrift dokumentiert wurde.
Aufgrund dieser Entdeckung genoss der nun in den Adelsstand Erhobene gewisse Privilegien. Dazu gehörte eben auch der Zugang zur Kapelle in Padua.
Nach der Trennung ihrer Eltern hatte sich Nicoletta in ein selbst erbautes Schneckenhaus zurückgezogen. Eigentlich war sie immer ein Mutterkind gewesen, doch nach der Scheidung schien es, als liebte sie Eduard noch bedingungsloser. Womöglich lag das daran, dass sie ihn seltener zu Gesicht bekam als Franca, bei der sie gelebt hatte, bis sie ihr Studium in Deutschland begann.
„Jetzt erzähl doch mal! Sie ist also Philosophieprofessorin! Was ist ihr Fachgebiet?“, will Nicoletta Näheres über die neue Liebe ihres Vaters erfahren, dem nichts zu entlocken ist.
„Ich sage mal so. Sie ist Expertin auf einem Gebiet, welches auch dir nicht fremd ist.“
„Kant? Nietzsche?“, fragt Nicoletta, die ebenfalls Philosophie studiert, aufgeregt.
„Nein, nicht doch. Nicht so banal.“
„Exotischer?“
Dass er in diesem Jahr das traditionelle Weihnachtsessen eigenhändig ausrichten wird, beschäftigt Eduard seit Wochen. Er weiß, seine Exfrau Franca wird ebenso anwesend sein wie seine neue Liebe, Monica Malente. Und seine neunundachtzig Jahre alte Mutter reist aus der Normandie nach Italien, um die ihr unbekannte Frau an seiner Seite kennenzulernen. Es wird eine kleine, gemütliche Runde werden, so der Plan. Auch Jake Gordon Smith, sein Jugendfreund, wird mit seiner Frau zugegen sein.
Am Flughafen in Mailand holt er seine Mutter, Charlotte Mignon, ab. Seinen Mercedes steuernd räsoniert er darüber, dass Charlotte immer noch allein in dem riesigen Haus wohnt, wo er aufwuchs und wo seine Mutter ihren todkranken Mann, seinen Vater, jahrelang pflegte, nachdem ihn der Prostatakrebs und ein Schlaganfall heimgesucht hatten. Eduard bedauert es zutiefst, dass er in jenen Jahren nicht mehr Zeit fand, um seinen Eltern beizustehen. Im Grunde scheute er vor der Situation, in der sich Charles Mignon befand, zurück. Er konnte mit Tod und Krankheit nichts anfangen. Beim besten Willen. Mehr noch, Angst überfiel ihn, sobald er daran dachte. Wie Jake, sein ältester Freund, war sein Vater Kunsthistoriker gewesen, ein Genie, welches eine berühmte Neuinterpretation des Teppichs von Bayeux publiziert hatte. Als Sechsjähriger war Eduard erstmals mit Charles Mignon an jenen Ort in der Normandie gereist. Bayeux. Seither war es um ihn geschehen. Er wollte unbedingt Himmelskundler werden. Dieses Ziel bekundete das Kind so nachdrücklich, dass ihm seine Mutter Charlotte ein kleines Teleskop schenkte. Fortan widmete sich der wissbegierige Knabe der Astronomie. In Bayeux erläuterte ihm sein Vater Charles, dass auf dem Teppich die Eroberung Englands durch die Normannen im Jahre 1066 dokumentiert wurde, und dass es sich dabei um die wahrscheinlich älteste Darstellung des Kometen Halley in der Geschichte handelt. „In jener Zeit durchlief der Komet seinen sonnennächsten Punkt“, erklärte ihm Charles damals.
Eduard wollte von seinem Vater erfahren: „Wie war das, père, als du den Kometen 1910 selbst gesehen hast?“
„Für mich war das ein spektakuläres Erlebnis, aber nicht nur für mich. Großteile der Einwohner von Rouen, wo wir zu jener Zeit lebten, feierten den Durchgang des Kometen Halley ausgelassen. Sie tranken und tanzten, als gäbe es kein Morgen. Viele nahmen wohl auch an, die Apokalypse stünde kurz bevor. Aber im Großen und Ganzen deutete man das seltene Ereignis positiv.“
Vater und Sohn begaben sich von nun an nach Bayeux, aber auch nach Padua, so oft sie konnten. Gemeinsam durften sie noch den Kometen im Jahr 1986 bestaunen. Bald darauf verstarb Charles.
Mithilfe von Charles´ Forschungsergebnissen sowie der engen Zusammenarbeit mit Jake Gordon Smith, wurde Eduard 1990 in die glückliche Lage versetzt, Darstellungen des Kometen Halley auf einer Tafel mit ägyptischer Keilschrift nachzuweisen. Zwar konnte das seit Kinderzeiten befreundete Duo nicht den zweifelsfreien Beleg liefern, dass diese Neuentdeckung eine Interpretation des Kometen war, aber trotzdem wurde ihre Arbeit gemeinhin als außerordentlicher Erfolg gewertet. Ihr Buch „Der Komet Halley – Aus dem alten Ägypten bis in die Gegenwart“ machte insbesondere Eduard Mignon zu einer bekannten Persönlichkeit, obwohl er noch medienscheuer war als sein Kompagnon Jake. Der Ruhm ging so weit, dass Eduard nach dem Ende des sogenannten Kalten Krieges von Queen Elizabeth II. zum Ritter geschlagen wurde. Dieser offizielle, am Buckingham Palace stattfindende Termin war der erste, bei dem sich Franca Ferrante an Eduards Seite zeigte. Obwohl sie seit den frühen 1970ern ein Paar waren, heirateten sie erst, als ihr Mann den Titel Sir im Namen trug. Auf dem Pressefoto, welches die Königin und den ausgezeichneten Forscher zeigt, ist auch Franca zu sehen, die voller Stolz der Zeremonie beiwohnt.
Mit dem Vollzug der Ehe stellten sich bald Schwierigkeiten ein, neigte Eduard doch immer mehr zum Rückzug. Von den Tantiemen für Jakes und sein Buch, eines Bestsellers, kaufte Eduard sich den Turm am Gardasee, um ein hochwertiges astronomisches Observatorium einbauen zu lassen. Die private Sternwarte verfügte auch über ein Weltraumteleskop. Nachdem die Bauarbeiten abgeschlossen waren, freute sich Eduard wie ein Kind und verbrachte Tag und Nacht im ausgebauten Turm.
Franca, deren Anwaltskanzlei sich in Mailand befand, lehnte es von vornherein ab, in jene „mittelalterliche Scheußlichkeit“ zu ziehen, wie sie sich ausdrückte. So bekam ihre Beziehung weitere Brüche. Dennoch blieben sie verheiratet, obwohl sie sich selten sahen. Jeder verfolgte seine eigene Karriere, doch Franca wollte unbedingt Kinder. Als sie nach ihrem neununddreißigsten Geburtstag schließlich doch noch schwanger wurde, empfanden die beiden unvergleichliche Glücksgefühle.
***
Ein Mitarbeiter der Air France bringt Charlotte Mignon behutsam, wie ein zerbrechliches Schmuckstück in einem Rollstuhl durch den Zoll. Eduard kämpft mit der Fassung, als er seiner Mutter ansichtig wird. Charlottes Buckel erscheint ihm noch ausgeprägter als beim letzten Treffen, das nun zwei Jahre zurückliegt. Ihre ständig tropfende, gekrümmte Nase bildet das Zentrum des länglichen Gesichts, welches nicht nur mit weichem Flaum, sondern auch mit dicken schwarzen Haaren und Warzen übersät ist. Speichelfäden ziehen sich zwischen ihren faltigen Lippen auseinander, als sie ihren Sohn sieht und voller Freude ruft.
„Eduard, mon chéri, endlich, endlich…“
„Maman“, entgegnet ihr der Sohn zurückhaltend und peinlich berührt, „schön, dich zu sehen.“
„Ça va?“
„Ça va, merci.“
Monica Malente begrüßt ihre Schwiegermutter in spe vor dem steinernen Turm, wo Eduard so viele wissenschaftliche Durchbrüche erlebte. Monicas glattes, tiefschwarzes Haar weht in einer leichten Brise. Genau wie Nicoletta bevorzugt Monica einen klassischen Modestil. Wo seine Tochter zu helleren, ockerfarbigen Kleidern neigt, tendiert seine Geliebte zu dunkleren Farbtönen. Ihre vollen Lippen akzentuiert Monica mit einem maronenbraunen Stift. Die Augenbrauen sind dezent nachgezogen und ihr voluminöses Haar trägt Monica gescheitelt. Er selbst wirkt daneben wie ein Schrat, sinniert er amüsiert. Dürr, von mickriger Statur, trägt er ein fusseliges, graues Bärtchen sowie ebensolches Haar. Seine vor Intelligenz strotzenden Augen verbirgt er hinter einer leicht getönten Nickelbrille.
Eduard fasziniert es, dass er an diesem Festtag die vier wichtigsten Frauen seines Lebens unter seinem Dach bewirten darf. Wird es zu Reibereien kommen? Oder werden sich die exzentrischen Damen nicht zu Dramen hinreißen lassen? Dass sich Nicoletta an derlei überflüssigem Gebaren nicht beteiligen wird, weiß Eduard. Denn seine Tochter gehorcht den Grundsätzen der Vernunft. Bei Monica, die nun Charlotte Mignon die Autotür aufhält und die Seniorin zum Hauseingang führt, sieht das anders aus. Obwohl die Wissenschaftlerin kaltschnäuzig sein kann, kommt es vor, dass sie sich von Gefühlen dominieren lässt. Gerade diese spezielle Mixtur ist es, die Eduard so anziehend findet. Franca Ferrante, seine Ex-Frau, führt ein rein von Intuitionen und sogar Aberglauben bestimmtes Leben. Mittlerweile. Nachdem sie sich von den Rechtswissenschaften befreite, wie sie stets betont, ist sie New Age-Anhängerin, hat eine eigene Astrologin und glaubt an Engel und Aliens. Bis zu einem gewissen Punkt vermag Eduard ihren „verträumten Spinnereien“, so seine Formulierung, zu folgen, aber als Vertreter einer nüchternen Kosmologie gibt es für ihn Grenzen. Sicher, dass andere Lebewesen in weiteren Universen existieren können, hält er für plausibel. Dass es sich dabei aber um engelshafte Wesen handeln soll, bezweifelt er. Vielleicht waren es derlei unterschiedliche Weltanschauungen, die Franca und ihn selbst schließlich auseinandergehen ließen.
Unvermittelt taucht vor seinem geistigen Auge Giottos Darstellung der Maria auf, die das Jesuskind auf dem Arm hält, während sie von Josef und dem Engel umrahmt wird und die Gaben der drei Weisen betrachtet. Der mittelalterliche Meister rückte in seinem Bild von den anbetenden Königen ein starkes weibliches Element in den Vordergrund. Und Eduard, der in dem Fresko stets auch ein Hoffnungs- und Friedenssymbol sah, wird wieder klar, wie bedeutend die Weiblichkeit für sein eigenes Leben war und ist. Er kam mit Frauen schon immer besser zurecht als mit Männern. Seine geliebte Tochter und Monica Malente, die sich herzlich begrüßt haben, steigen gleich in eine Diskussion über mittelalterliche Philosophie ein. Dass die beiden gut miteinander klarkommen, registriert Eduard mit Genugtuung.
Seine Mutter, von den anderen Damen umsorgt, ist für ihr hohes Alter erstaunlich fit, obwohl sie zeitlebens Zigaretten rauchte und eine große Rotweinliebhaberin ist.
„Hast du das Essen schon fertig?“, fragt Charlotte grinsend.
„Ich weiß, ich weiß“, gibt Eduard zu, „ihr traut mir nicht zu, auf eigene Faust ein Weihnachtsmahl zuzubereiten, aber meine liebe Tochter stand mir unterstützend zur Seite.“
„Jetzt muss ich aber los“, sagt Nicoletta abrupt und entschuldigt sich bei Monica für die Unterbrechung ihres Gesprächs, „ich hole meinen Freund vom Bahnhof ab.“
Als Nicoletta mit Paul, ihrem deutschen Lebensgefährten, zurückkommt, haben sich bereits alle am Tisch versammelt. Jake Gordon Smith und seine Frau Amelie sind, wie auch Eduards Tochter und Paul Veganer. Für sie kreierte Eduard ein eigenes Menü, welches mit verschiedenem, gebratenem Gemüse und geröstetem Vollkornbrot beginnt. Dazu wird ein perfekt dekantierter Cabernet Sauvignon gereicht, den alle, bis auf die Smiths und Nicoletta, allesamt Abstinenzler, genießen und loben. Eine Kartoffel-Pflaumensuppe trägt Eduard mithilfe seiner Ex-Frau anschließend auf, während die übrigen Gäste ein Jakobsmuschel-Carpaccio mit Passionsfrucht serviert bekommen.
„Das Festmahl ist wirklich grandios“, lobt Monica, und alle stimmen nickend zu.
„Auf Eduard, auf Sir Eduard Mignon!“, spricht Jake Gordon Smith feixend, da er genau weiß, wie ungern sein Freund mit diesem Titel angesprochen wird. Doch der verbal Verballhornte geht gar nicht erst auf die humorige Attacke ein.
„Auf euch, auf die Liebe, die Wissenschaft und die Familie!“
„Der Truthahn passt vortrefflich zum Calvados“, sagt Monica, die sich den Platz neben Franca ausgesucht hat. Die beiden Frauen kommen ins Gespräch, als sie während einer kurzen Unterbrechung des weihnachtlichen Festmahls Zigaretten auf dem kleinen Balkon neben der Küche rauchen.
„Er ist ein so guter Mensch“, bemerkt Monica vorsichtig. Schließlich weiß sie nicht, wie Franca gepolt ist, und wie sie darauf reagiert, wenn man sie auf ihren geschiedenen Mann anspricht. Zu Monicas Erleichterung fällt Francas Reaktion jedoch entspannt und sachlich aus.
„Das ist er, Eduard ist wie ein großes Kind, unfähig, etwas Böses zu tun oder jemandem ein Leid zuzufügen. Passen Sie gut auf ihn auf, liebe Monica.“
Jake, Amelie und Nicoletta bringen übriggebliebene Semmelklöße in die Küche, während Paul, der Eduard das aus Deutschland stammende Rezept gegeben hatte, mit Charlotte Begebenheiten aus dessen Kindheit erörtert.
„Er war bereits auf Kindesbeinen ein wahrer Astronom“, erklärt Charlotte, „damals lebten wir in Rouen und in London, wo sein Vater, mein Mann Charles, forschte.“
„Weshalb ausgerechnet Himmelskunde?“, fragt Paul.
„Nun“, führt Charlotte aus, „das hängt wohl damit zusammen, dass mein verstorbener Mann als Kind den Kometen Halley gesehen hatte, das war exakt am 20. April 1910. Seine Begeisterung für die Astronomie zog auch Eduard in ihren Bann, der geboren wurde, als sich sein Vater gerade intensiv mit einer aus dem Jahre 164 vor Christus stammenden, in babylonischer Keilschrift verfassten Tafel auseinandersetzte. In jenem Jahr ereignete es sich auch, dass Naturwissenschaftler vor dem Schweifstern warnten, da sie darin ein giftiges Gas vermuteten. Während einige Menschen anhand der Warnungen in Furcht versetzt wurden, feierte die Mehrheit besonders in den großen Städten den Durchflug des Kometen trinkend und ausschweifend…“
„Also hatte Eduard bereits vor der Einschulung Berührung mit diesem Fachgebiet gehabt. Interessant.“
„Seine Begabung war so enorm, dass er schon mit sechzehn Jahren sein Studium aufnehmen konnte, welches er als Zwanzigjähriger mit einer Doktorarbeit über Edmond Halley, dem Namensgeber des Kometen abschloss. Eine Zeit lang dozierte er in Oxford, bevor er eine Professorenstelle in Paris angeboten bekam. Mein Mann und ich blieben zunächst in London, zogen aber im Ruhestand endgültig nach Rouen, in meine Heimatstadt.“
„Der Plumpudding wartet“, ruft Amelie fröhlich, und alle setzen sich wieder an die Weihnachtstafel.
Nach dem feierlichen Essen wird gemeinsam in der Küche abgespült, danach werden Weihnachtslieder gesungen.
Das erste, ein französisches, kennt Paul nicht, also übersetzt es Nicoletta für ihn: „Die Engel in unseren Landen…“ Auf die französische Version von „Jingle Bells“ können sich alle einigen, und auch auf einen italienischen Klassiker, der davon handelt, wie ein Engel von den Sternen hinabstieg.
Die Stimmung könnte festlicher, und, durch den reichlichen Alkoholgenuss bedingt, ausgelassener nicht sein. Eduard spielt auf seiner Ukulele und Paul trommelt auf Bongos. Sie haben sich weihnachtlich zurecht gemacht, tragen dicke Wollpullover mit Tannen- oder Weihnachtsmann-Motiven und Rentiergeweihe auf den Köpfen. Silvesterkerzen britzeln glühend und grellweiß strahlend. Ihr Funkenflug spiegelt sich in den bunten Christbaumkugeln am Weihnachtsbaum, einer Nordmanntanne, die Paul eigens aus Deutschland liefern ließ. Anschließend überreichen sich die Feiernden ihre Geschenke. Als vor dem Fenster ein lautes Gurren zu vernehmen ist, welches sich in ein fürchterliches, bedrohliches Kreischen verwandelt, wird zuerst Franca hellhörig.
„Es sind nur sich streitende Turteltauben“, kommentiert sie das Geschehen, „von denen gibt es hier viele.“
Charlotte stellt fest: „Guckt mal, es beginnt zu schneien.“
Voller Glück blickt die Festgesellschaft aus den Fenstern von Eduards hohem Turm über den immer weißer werdenden Hafen von Toscolano Maderno über den Gardasee hinweg. Eine von der Schneeschicht bald vollständig bedeckte Autofähre und zwei Schifferkähne leuchten hell im Schein der am Ufer aufgestellten Straßenlaternen. Nicoletta und Monica gehen auf den Balkon und betasten die Eiskristalle.
„Ach, das ist einmalig!“
„Als Kind habe ich gern Schnee gegessen“, sagt Nicoletta und Monica nickt lächelnd.
„Ja, ich auch. Und ich habe mir immer weiße Weihnachten gewünscht. Selten wurde mir dieser Wunsch erfüllt.“
„Zu welchem Thema forschen sie eigentlich?“
„Nenn mich ruhig Monica“, wirft die Philosophin ein, um zu ergänzen, „ich beschäftige mich vor allem mit Mystikerinnen, wie Hildegard von Bingen.“
Die beiden verstehen sich prächtig, wünschen einander zuerst frohe Weihnachten, während die anderen folgen. Glücks-, Gesundheits- und Segenswünsche werden ausgesprochen, die Gläser erhoben.
„Wir müssen los“, drängt Nicoletta die Frauen zum Aufbruch, „die Messe beginnt gleich.“
Außer Amelie, einer überzeugten Atheistin, begeben sich alle übrigen Frauen in Eduards Mercedes, um zur lokalen Andreaskirche zu fahren. Der romanische Bau ist berühmt für seine antiken, vom Ruß verdunkelten Säulen und Baldachine.
Eduard, Paul, Jake und dessen Gattin Amelie führen sich unterdessen weiterhin Wein zu Gemüte und schalten die Abendnachrichten der BBC ein, die der Astronom stets guckt. Die News sind eintönig. Plötzlich hat Eduard ein unerklärliches Gefühl. Eigentlich ein Kopfmensch, weiß er seine Intuitionen sehr wohl zu schätzen und einzuordnen. Irgendwas stimmt nicht. Der Nachrichtensprecher erwähnt eine Razzia gegen Staatsfeinde, und beinahe zeitgleich hören die im Wohnzimmer Versammelten lauter werdende, näherkommende Motorengeräusche.
Flapp, flapp, flapp flapp flapp, flapp…
Es handelt sich um die Rotorblätter eines Helikopters. Grelles Licht dringt in das oberste Stockwerk von Eduards Turm, durch Megafone werden die Anwesenden dazu aufgefordert das Gebäude zu verlassen und sich vor der Haustüre zu gruppieren. Pflichtschuldig blickt Paul den Gastgeber an, um zu erklären: „Die sind wegen mir hier.“
„Kommen sie mit erhobenen Händen heraus“, befiehlt ein stählerner Polizistenroboter mit kalten, bösartigen Augen.
Jake zittert vor Angst, weiß er doch, dass sich die gepanzerten, uniformierten Staatsdiener heutzutage beinahe alles erlauben können. Im Unterschied zu den friedensbewegten Sechzigern, als er und sein Kumpel an aus heutiger Sicht harmlos erscheinenden Demonstrationen teilnahmen, existiert inzwischen ein Kriegszustand. Widerstand gegen die Staatsgewalt, staatsfeindliche Akte oder auch nur laut ausgesprochene, subversive Gedanken werden mit aller Härte geahndet. Er würde Amelie gern umarmen, doch das lassen die aggressiv auftretenden Polizisten nicht zu.
„Wer von ihnen ist Paul Lohmeier?“, brüllt der muskulöse, tätowierte Polizist.
Paul gibt sich zu erkennen und wird auf der Stelle von drei Beamten überwältigt. Sie drücken ihn brutal zu Boden, fesseln und durchsuchen ihn. Danach führen sie ihn ab und lassen Eduard, Jake und Amelie verängstigt zurück. Vier Polizeiwagen fahren gerade in dem Augenblick vom Hof, als Nicoletta und die anderen Frauen aus der Messe zurückkommen.
„Haben sie ihn mitgenommen?“, erkundigt sich Nicoletta und wird kreidebleich.
„Wir dürfen jetzt nicht nervös werden“, appelliert Amelie an das Grüppchen.
„Wenn das so einfach wäre“, spricht Franca.
In Eduards Wohnzimmer lassen sich die in Panik Versetzten nieder, auf Sesseln und einer Couch. Vor dem Fenster wird ein rätschender Ruf laut. Dann setzt sich ein prächtiger Eichelhäher auf den Mauervorsprung. Beinahe zahm, lässt sich das in der Mythologie für Vorahnungen, aber auch Weisheit stehende Federtier nicht aus der Ruhe bringen. Es mutet an, als habe der farbenfroh Gefiederte, der Wächter der Wälder, eine Botschaft für die Versammelten, deren Weihnachtsfest so plötzlich endete.
Hacker Nostromo in der Lombardei verhaftet, titelt die BILD-Zeitung am nächsten Tag. In dem Artikel wird Nostromo, so der Tarnname von Paul Lohmeier, Terrorismus vorgeworfen. Der Hacker habe sich ins Sicherheitssystem eines großen deutschen Rüstungskonzerns eingehackt und dessen Drohnenprogramm manipuliert. Dabei sei ein zweistelliger Millionenschaden entstanden. Es werde vermutet, dass Nostromo kein Einzeltäter, sondern Mitglied einer kriminellen Vereinigung sei.
Die Suche nach Mitverschwörern dauert an, so die Meldung der Süddeutschen Zeitung.
***
Am 28. Juli 2061, Sir Eduard ist seit über dreißig Jahren tot, treffen sich Paul Lohmeier und Nicoletta Ferrante-Mignon in Padua, so hatte sie es ihrem Vater an dessen Totenbett geschworen. Zwar sind die beiden kein Paar mehr, aber dennoch möchten sie ihre gemeinsamen Erinnerungen wachhalten. Jährlich kam die Familie weiterhin in der Kapelle zusammen, um der Weihnachtsmesse beizuwohnen. Diese Tradition führte Nicoletta auch nach dem Tod ihrer Eltern fort, und Monica Malente, mit der sie inzwischen gut befreundet war, war ebenfalls stets vor Ort. Die Philosophieprofessorin starb vor zehn Jahren an Darmkrebs.
„Wir sind die Letzten“, sagt Nicoletta zu ihrem früheren Partner Paul, der seit seiner Haftentlassung nicht mehr als Hacker Nostromo, sondern für die deutsche Bundesregierung tätig ist.
„Es ist ungewöhnlich, sich im Sommer und nicht zu Weihnachten hier zu treffen, nicht wahr?“
„Aber es hat ja einen besonderen Grund“, betont Nicoletta und deutet aufgeregt auf den Schweifstern am Himmel:
„Dort! Dort!“
Im Äther ist der Komet Halley an diesem Tag mit bloßen Augen zu sehen, wie zuletzt 1986, vier Jahre bevor Eduard Mignon zum Ritter geschlagen wurde.
„Wenn man bedenkt, dass er bereits von Menschen zu vorgeschichtlichen Zeiten gesehen wurde…“, sinniert Nicoletta ehrfürchtig.
Der Himmel bietet dem hellen Licht des Kometen ein schwarzblaues Bett. Vor diesem Hintergrund durchquert die Erde den Schweif des Kometen Halley.
Im Andenken an ihren Vater fallen Nicoletta und Paul vor Giottos Darstellung der das Kind anbetenden Könige auf die Knie, obwohl der ehemalige Hacker nicht an Gott glaubt.
„Schau, dort über den Köpfen der Könige!“, spricht er, doch Nicoletta ermahnt ihn zum Schweigen.
Still verlassen sie die Arenakapelle wieder, um in den Nachthimmel zu schauen. In der Ferne hört man Musik und Gesang. Auch wenn die Medien erneut vor dem Gift im Schweif des Kometen Halley warnten, lassen sich die Menschen nicht davon abhalten, dieses nur ungefähr alle 75 Jahre auftretende Ereignis feierlich zu begehen. Nicoletta und Paul gehen langsam durch Padua und begegnen friedlich Tanzenden und Singenden.
Am Pinienhain, wo sie so oft mit ihrem Vater saß, kaufen die beiden süße Nektarinenlimonade bei einem Kiosk. Der Verkäufer kann sich einen Kommentar nicht verkneifen: „Ein schönes Paar!“
Paul und Nicoletta haben nicht geheiratet. Doch wurde sie in jungen Jahren Mutter. Seit ihrer Trennung, die während der fünf Jahre von Pauls Haftzeit erfolgte, lebt der gemeinsame Sohn Pier Paolo bei ihr.
„Wir sehen uns am 24. Dezember“, sagt Paul und umarmt die geliebte Frau. Er hofft immer noch darauf, dass Nicoletta mit Pier Paolo, der an Trisomie 21 leidet, einst zu ihm zurückkehren wird, aber er ahnt, es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Illusion.
Da die Wandgemälde vor Zerfall geschützt werden müssen, finden die jährlichen Christmessen in einem geheizten Zelt neben der Kapelle statt. Paul reist zu Heiligabend erneut aus Berlin an, Nicoletta kommt mit Pier Paolo aus Toscolano Maderno. In Eduards Turm leben Mutter und Sohn zurückgezogen. Nicoletta hält ihre Philosophie-Seminare ausschließlich online und kommt gut mit der Einsiedelei zurecht. Pier Paolo wird indes nicht müde, immer wieder nach Paul zu fragen:
„Wann sehen wir Papa wieder?“
Diese Nachfragen stimmen die Mutter traurig, denn insgeheim schwärmt sie weiterhin für Paul. Sie denkt an den vergangenen 28. Juli, als sie gemeinsam in den Himmel blickten. Sie genoss Pauls Nähe, als sie nebeneinander auf einer Bank saßen. Dann fasst sie sich ein Herz und lädt den immer noch wichtigsten Menschen in ihrem Leben zu Weihnachten in ihren Turm ein.
Nur, um Pier Paolo eine Freude zu machen, ermahnt sie sich zur Vernunft, weiß aber genau, dass sie sich selbst belügt.
Als sich die drei in Padua treffen, treten sie vor Giottos Wandgemälde, welches auch Pier Paolo liebt. Nicoletta und Paul knien auf der Betbank, um Eduards zu gedenken. Sie begeben sich in das Zelt, wo gerade das Magnificat, der Lobgesang Mariens, gesungen wird:
„Meine Seele preist die Größe des Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.“
Nicoletta blickt zu Paul, dem die Tränen von den Wangen tropfen. Dann ergreift sie seine Hand.
