Max Ernst: Die Versuchung des Heiligen Antonius

Dieser Artikel ist in der eXperimenta (Ausgabe: November 2017) erschienen.

Max Ernst (1891-1976): Die Versuchung des Heiligen Antonius (1945), 108 × 128 cm, Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg.

Für den von Regisseur Albert Lewin gedrehten Film The Private Affairs of Bel Ami wurde 1945/46 der Bel-Ami-Kunstwettbewerb ausgeschrieben. Vorbild dafür war der 1885 erschienene Roman Bel-Ami von Guy de Maupassant, in dem der gesellschaftliche und berufliche Aufstieg eines ehemaligen Unteroffiziers beschrieben wird. In einer Schlüsselszene des Films wollte der Regisseur eine Großaufnahme des Bildes Die Versuchung des Heiligen Antonius zeigen, welches noch anzufertigen war. Dafür wurde der Wettbewerb veranstaltet, zu dem Künstler wie Salvador Dalí und eben auch Max Ernst eingeladen wurden. Für ein Honorar von jeweils 500 Dollar lieferten insgesamt elf Künstler Werke zum gewünschten Thema ab. Die Jury, der u.a. Marcel Duchamp angehörte, entschied sich für das von Vorbildern wie Matthias Grünewald und Hieronymus Bosch inspirierte Gemälde von Max Ernst, der als Sieger des Wettbewerbs weitere 2500 Dollar erhielt. Die surrealistische Darstellung zeigt den mit Monstern, Widerspiegelungen seiner kranken Seele, kämpfenden Heiligen am Ufer einer von Felsen umfangenen Seenlandschaft. Max Ernst kommentierte das Szenario wie folgt: „Schreiend nach Hilfe und Licht über dem stehenden Wasser seiner dunklen kranken Seele, empfängt der Heilige Antonius als Antwort das Echo seiner Angst: Das Gelächter der Monster, geschaffen durch seine Visionen”.

Weder der Film noch Ernsts Bild wurden von Kritikern gelobt, vielmehr verurteilte man, wie ein Kritiker der New York Times es tat, die Figuren als „halbgar gekochte Hummer“. Heutzutage gilt Max Ernsts Versuchung als „Star“ unter den im Wilhelm-Lehmbruck-Museum ausgestellten Kunstwerken und wird immer wieder anlässlich internationaler Ausstellungen um die Welt geschickt. Im Rahmen der Schau Max Ernst lässt grüßen wurde es 2009 im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster präsentiert, wo ich Gelegenheit hatte, das Original in Augenschein zu nehmen.
Der um 251 in Ägypten geborene christliche Mönch Antonius lebte als Eremit und Asket. Seine wohlhabenden Eltern starben, als er zwanzig Jahre alt war. Von Frömmigkeit geprägt, hielt sich Antonius an das Bibelwort: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ (Matthäus 19,21) und verschenkte all seinen Besitz. Anschließend zog er sich in die Einsamkeit zurück und hielt sich an die vermeintlich masochistisch anmutende Regel: Töte dich täglich selbst ab! Dieser mit der Abkehr von weltlichen und leiblichen Begierden verbundene Imperativ ist eine der bekanntesten Antoniusregeln. Überlieferungen zufolge soll der Mönch Antonius die Geistesgabe der Unterscheidung im Dienste von Tugend und Keuschheit besessen und jegliche Versuchungen überwunden haben.
Während sich der Heilige Antonius dem Eremitendasein und der Askese widmete, sollen ihm mannigfache Dämonen sowie der Teufel in Gestalt einer Jungfrau erschienen sein. Dieses in bildender Kunst (Hieronymus Bosch, Matthias Grünewald, Salvador Dalí), Film (Albert Lewin, Georges Méliès), Musik (Werner Egk, Paul Hindemith, Rober Wilson) und Literatur (E.T.A. Hoffmann, Gustave Flaubert) oftmals behandelte Thema geht auf Fresken des 10. Jahrhunderts sowie den Buchdruck des Spätmittelalters zurück und wurde von Max Ernst in vor ihm nie dagewesener Form umgesetzt.

Dem Betrachter begegnet auf den ersten Blick ein Gewirr von geschnäbelten, gehörnten, geflügelten, klauenfüßigen, geifernden Fantasiegestalten, welche, versammelt am Ufer einer grünstichigen Seeoberfläche, eher schelmenhaft als bedrohlich wirken. An vorderer Front kriecht eine Kreuzung aus Schildkröte und Eidechse entlang. In dem Gewimmel von grotesken Fratzen und weit aufgesperrten Mäulern entdeckt man den Namensgeber des Werks erst nach geraumer Zeit. Wie in einem Korallenriff verschmilzt Antonius mit all den bösen Gespenstern, die ihn fest im Griff haben und ihn bestimmt nicht wieder hergeben werden. Im unteren Drittel des Bildaufbaus schwebt Antonius, in scharlachrotem Gewand, waagerecht über dem den Himmel reflektierenden Gewässer, nein, es mutet nur an, als ob er in der Luft hinge, in Wahrheit wird der Mönch von affen-, adler-, eulen- und hasenartigen Spukgeschöpfen auf der Horizontalen fixiert.

In den Schoß des Eremiten gepflanzt, spreizt eine Mischung aus Frosch, Qualle und Krake ihre scharfen Krallen zu einem Dreizack. Mehrere auf der Gelee-Haut des Biestes angesiedelte Augäpfel schielen manisch-frech den gebannten Zuschauer an, laden ihn dazu ein, dem bizarren Treiben beizuwohnen. Der krampfende Heilige erlebt bei vollem Bewusstsein einen psychotischen Alpdruck, schiebt den von einem zweigeteilten, fuchsigen Vollbart umkragten Schädel auf den steinig-morastigen Grund des Ufers, um auf Muscheln, Sand, Moos und Algen Halt zu finden. Seine linke Hand greift ins Leere, die rechte stützt sich auf einen stacheligen Kaktus, der sich indes bei näherer Betrachtung als Knorpelbein eines mannshohen Schalentiers, halb Krebs, halb Stubenfliege, darbietet. Das geschuppte und gepanzerte Insekt reckt seine Fühler, reißt den gezackten Hornschnabel, der erst jetzt zu erkennen ist, gierig auseinander, um dem entsetzten Opfer herzhaft die dreieckigen Milchzähnchen in den Oberarm zu hauen.

Trocken werden unsere Augen, die auf die mannigfaltigen Farb- und Formreize der in Öl gepinselten Bildoberfläche mit immer radikaleren Bewegungsdynamiken reagieren; nicht der Betrachter ist Herr der Situation, und auch nicht der Heilige, der seinen Peinigern vollends ausgeliefert ist. Nein, der Vater des betörenden Opus selbst, Max Ernst, führt hier Regie. Unser Blick wandert von links nach rechts, diagonal, vertikal, kreuz und quer, in kurvigen Bahnen, dreidimensionalen Tiefenexkursionen, von einer unsere Sinne überflutenden Etappe zur nächsten, immer auf der Suche nach einer Heimat, einer Oase. Die er endlich im Hintergrund des widerspenstigen Spiels der Komplementärkomposition findet: Von schlangenleibförmigen Wurzeln und wasserrohrdickem Stammwuchs an die Felstafel geheftet, begrüßt den nach Ruhe und Einkehr suchenden Bilderforscher der klassisch-schöne Körper einer steinernen Nackten, deren konische Brüste, halbierten Zeppelinen gleich, eine direkt auf den halluzinatorischen Kampf des Heiligen wirkende Monumentalerotik aussenden, die suggeriert, dass das paralytische Kribbeln im Nervengeäst des Einsiedlers nicht von dem krabbelnden Getier, sondern vom libidinösen Kitzel der antiken Göttin erweckt wird. Das limbische System des Gottesmenschen (Theios aner) befindet sich im hellen Aufruhr, hypersexualisierte Dämonen, sublimierte Beischlafwünsche attackieren qua paralytischer Verunsicherung das freigewählte fromme Regelwerk des stetig Fastenden. Der Gottseibeiuns selbst wirft Projektionen von erdig-feuchter, nach Moschus duftender Begierde auf die inneren Augendeckel des von der Welt Zurückgezogenen. Entsagung auf allen Ebenen ist die umfassende Maxime des eben dafür Gefolterten. Todesmutig brüllt Antonius den Imperativ: Töte dich täglich selbst ab! Im Dienste von Tugend und Keuschheit entspringt seinem klaren Geist die Differenzierung: „Wer in der Wüste sitzt und der Herzensruhe pflegt, ist drei Kämpfen entrissen: Dem Hören, dem Sehen, dem Reden. Er hat nur noch einen Kampf zu führen: den gegen die Unreinheit!“