Egon Schiele und die Spanische Grippe

 

Münster, den 30. März 2020

Hustend tritt Egon an die Staffelei, blickt durch das offene Fenster auf die Wattmanngasse, wo goldene Blätter umher wehen und dem Herbst den Anschein von Schönheit verleihen. Es ist ein kühler Oktobertag, und Egon sieht sich nicht im Stande, zu arbeiten. Denn auf dem abgewetzten Sofa liegt fiebernd, keuchend seine im sechsten Monat schwangere Gattin Edith. Die schwitzende Frau, die Egon vor drei Jahren geheiratet hat, kurz bevor er nach Prag versetzt wurde, kämpft mit dem Tod, das weiß er. Dass es aber so schnell gehen würde, hatte er nicht geahnt. Wirr fasst er sich an die Stirn, um festzustellen, dass auch er hohes Fieber hat. Er hält Ediths Hand, blickt auf das in der Ecke stehende Gemälde, welches Mann, Frau und Kind zeigt. Es geht dem Maler zunehmend schlecht, und doch bearbeitet Egon wieder und wieder die Leinwand, zückt Pinsel und Ölfarben, muss sich aber eingestehen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, das Werk zu vollenden. Edith klagt über die Kälte, und Egon schließt das Fenster. Auf der Straße erblickt er eine Familie, die einem von zwei Männern in Frack und Zylinder getragenen Sarg folgen. Egon zieht die löchrige Wolldecke ein wenig weiter nach oben, bis Ediths Gesicht fast bedeckt ist. Dann nimmt er wieder sein Familienporträt in Augenschein. Soll dies mein letztes Bild sein?, fragt er sich. Er legt sein Ohr auf den Bauch seiner Frau, um zu hören und zu fühlen, ob das Kind sich regt. Tatsächlich, Egon vernimmt leichte Bewegungen, im Mutterleib scheint das werdende Leben ebenso zu kämpfen, wie die leidende Mutter.

Der verdammte Krieg, denkt Egon, als seien nicht schon genügend Menschen verreckt! Und jetzt rafft die Grippe Tausende, weltweit Millionen hinweg! Es ist schon spät, als Edith einschläft und nicht wieder aufwacht. Egon, der mit ihrem Tod in jeder Minute gerechnet hatte, legt ein letztes Mal sein Ohr auf ihren Bauch, die Regungen des Kindes bleiben aus. Mutter und Kind sind beide Opfer der Pandemie geworden. Eine Beerdigungsfeier wird es nicht geben. Die Toten werden von Behördenmitarbeitern abgeholt und verbrannt.

Egon hält noch zwei Tage lang durch, Husten und Fieber werden stärker, Erschöpfung und Trauer sind dermaßen unerträglich, dass es ihm nicht einmal gelingt, Bleistiftskizzen anzufertigen. Seine Lunge ächzt, dennoch zündet sich Egon eine Zigarette an und erinnert sich an ein Bild, das er vor sechs Jahren gemalt hatte. Es zeigt hölzerne Stühle, und darunter hatte er jenen ihn prägenden Satz geschrieben: „Kunst kann nicht modern sein; Kunst ist urewig.“

Egon Schiele starb, erst 28 Jahre alt, am 31. Oktober 1918 in der Wohnung der Familie seiner Frau in Wien, in der Hietzinger Hauptstraße.