Dieser Artikel ist in der eXperimenta erschienen (Ausgabe: Juni 2018)

Beastie Boys live auf dem Virgin-Festival 2007
Foto: Napalm filled tires (Jason)
Miles Davis sagte einmal über „Paul´s Boutique“, er könne das Album der Beastie Boys immer wieder hören, ohne dass er sich dabei langweilen würde. Und so geht es wohl vielen Hörern, auch mir. Drei Jahre, nachdem „Paul´s Boutique“ auf den Markt gekommen war, brachte ein Schulfreund das darauf folgende Album „Check Your Head“ von einem Schüleraustausch aus den USA mit, und eröffnete mir damit einen Kosmos, den ich mein Leben lang immer wieder aufsuchen werde: Das musikalische sowie lyrische Universum der Beastie Boys. Nachdem ich den atemberaubenden Melodien, Samples, live im Studio eingespielten Stücken und den cleveren Reimen auf „Check Your Head“ monatelang intensiv gelauscht hatte, entdeckte ich beim lokalen Musikhändler in der Kleinstadt, wo ich aufwuchs, ein ausrangiertes Exemplar von „Paul´s Boutique“. Für eine Handvoll D-Mark erwarb ich den 1989 erschienenen, vermeintlichen Ladenhüter. Fortan rotierte die LP auf meinem Plattenteller und begleitete mich im Frühling des Jahres 1992 durch eine heftige, fiebrige Grippe.
Da ich den Tonträger in jener Zeit mit der Influenza assoziierte, die mich erwischt hatte, legte ich ihn zunächst beiseite und wartete ungeduldig auf eine neue Platte von den drei Rappern mit jüdischen Wurzeln aus Brooklyn, New York. Eine solche sollte indes erst im Mai 1994 das Licht der Welt erblicken und auf den Namen „Ill Communication“ hören.
Während ich sehnlichst auf das vierte Studioalbum des Trios hin fieberte, ergab es sich, dass ich ihr Meisterwerk von 1989 öfter anhörte und dabei auf immer neue Ebenen, Texturen, Schichten stieß. Da das Internet in seinen Kinderschuhen steckte, waren Musikfans auf Printmagazine und Fernsehbeiträge angewiesen, um die erwünschten Informationen zu erhalten. Auf den TV-Sendern „VIVA“ und „MTV“ wurden anlässlich des Erfolges von „Check Your Head“ auch Videos aus der „Paul´s Boutique“-Ära gezeigt, deren im Stil der 1970er Jahre gestaltete Ästhetik mich in ihren Bann zog.
Mittelpunkt jener Musikfilme war der sogenannte „G-Spot“, eine Villa in Los Angeles, welche von den Rappern und ihrer Crew angemietet worden war. Das Anwesen gehörte dem Filmproduzenten und Regisseur Alex Grasshoff und seiner Frau Marylin, besser bekannt unter ihrem Bühnennamen Madilyn Clark. Stars, wie der Schauspieler Bill Murray und der Rockmusiker Jon Bon Jovi, gehörten zu den ehemaligen Mietern des mit einem goldenen G dekorierten Hauses. In Anlehnung an den 1975er Blaxploitation-Film „Dolomite“ reimen die Beastie Boys auf ihrem Track „What comes around“:„Clean B, cleaning the G spot / You know that we’ve got / The dolomite house and you have not“. In den Kleiderschränken der Grasshoff-Villa stießen Michael Diamond, alias Mike D., Adam Horovitz, alias Adrock, und Adam Yauch, alias MCA, auf Kostüme im Siebziger-Jahre-Chic, die für Videos wie „Hey Ladies“ verwendet wurden. Jene passten auch zu den ebenfalls oftmals aus der Dekade stammenden, auf „Paul´s Boutique“ zu findenden Funk-, Soul- und Rocksamples.
Der verschwenderische Gebrauch von Samples gehört zum Mythos des epochemachenden Albums. Allein im genannten Stück „Hey Ladies“ kann sich der Hörer über sechzehn davon erfreuen. Darunter befinden sich musikalische Anleihen von den Commodores, James Brown, Kool & the Gang, Kurtis Blow, Sweet, Afrika Bambaataa sowie Deep Purple. Über dreihundert Samples sollen für das gesamte Werk benutzt worden sein, glaubt man den Angaben des Produzenten-Duos Dust Brothers.
An einem Februarabend des Jahres 1988 tauchten Michael Diamond und Adam Yauch in Matt Dikes Apartment auf, dem Mastermind und Mentor der bevorstehenden Recording-Sessions. In den Monaten zuvor waren die beiden New Yorker mehrfach nach Los Angeles gereist, um sich über künftige Unternehmungen abzustimmen. Adam Horovitz, der Dritte im Bunde, hatte gerade eine Rolle in dem Film „Lost Angels“ gespielt und beratschlagte mit den befreundeten Bandmitgliedern, welche Richtung anzuvisieren war, nachdem die Wortakrobaten mit dem Album „Licensed to Ill“ im November 1986 direkt Platinstatus erlangt hatten. Die anschließende Tour gestaltete sich wild und sollte zu Hausverboten in einigen Hotels führen. Mit der Hitsingle „(You gotta) Fight for Your Right (to Party!)“ und dem dazu gehörigen Video hatten sich die Drei umgehend als notorische Krawallmacher qualifiziert.
Während der folgenden Dekaden ihres Ruhms haftete dem Trio dieser Ruf indes nicht mehr an. Auf ironische Weise setzte sich die Gruppe 2011 mit ihrem früheren Image auseinander. Adam Yauch, der ein Jahr später seinen Kampf gegen eine Krebserkrankung verlieren sollte, drehte mit einer Schar von prominenten Schauspielern den Kurzfilm „Fight for Your Right Revisited“. Hier wurde mit der Idee zu gespielt, was geschehen wäre, wenn die Beastie Boys den zu „Licensed to Ill“-Zeiten eingeschlagenen Weg zu Ende gegangen wären. Man sieht die gealterten Boys, dargestellt von John C. Reilly, Will Ferrell und Jack Black, in ihren zu engen Teenager-Klamotten, wie sie Bier trinkend und marodierend durch Brooklyn ziehen.
Exakt eine solche Zukunft war es, die Fans und Kritiker den Dreien Ende der 1980er prognostizierten und deren Eintreffen mit dem von der Musikzeitschrift „Rolling Stone“ als „Sgt. Pepper of hip-hop“ gepriesenen Album „Paul´s Boutique“ auf grandiose Weise vermieden wurde.
An jenem Februarabend 1988 kam es schließlich dazu, dass Matt Dike den Rappern seine funkigen Soundcollagen vorspielte. Adam Yauch erinnert sich daran wie folgt: „It all sounded incredible, it was so rich with layer upon layer of music“. Das Loopen und Übereinanderlegen von Samples wird heutzutage bekanntlich bequem mit Computern erledigt, doch damals bedeutete es viel Arbeit. Das Produzenten-Team Dust Brothers, bestehend aus John King und Mike Simpson, welches später auch für Becks Album „Odelay“ verantwortlich zeichnen sollte, nahm das Album zusammen mit Spiritus Rector Matt Dike, dem Mitgründer des Labels Delicious Vinyl, in dessen Apartment auf. Abgemischt wurde es dann in den Record Plant Studios in Los Angeles. Schon Musikgrößen wie B.B. King, Billy Joel oder Black Sabbath hatten hier gearbeitet. Im Ableger des legendären Studios in Manhattan fertigten die Produzenten Remixe für „Paul´s Boutique“ an.
Zu Weihnachten 1988 waren die Arbeiten am Album fast abgeschlossen. Obgleich die Kritiken größtenteils enthusiastisch ausfielen – im Time-Magazin bezeichnete David Hiltbrand den Nachfolger von „Licensed to Ill“ als ebenso wichtig für das Jahr 1989 wie es einst Bob Dylans „Blonde on Blonde“ für 1966 gewesen war – floppte „Paul´s Boutique“. Dies lag zum einen daran, dass es keine offizielle Hit-Single gab und zum anderen daran, dass die Erwartungen der Fans, die mit einem zweiten „Fight for Your Right“ gerechnet hatten, in keinster Weise erfüllt wurden. Auch von einer Tour, auf der das Album hätte promotet werden können, sahen die Beastie Boys ab. Wohl sollte eine Wiederholung der exzessiven „Licensed to Ill“-Konzerte verhindert werden, war es laut Michael Diamond doch ein Wunder, dass die Band jene überlebt hatte. Einzelne Shows wurden gespielt, so trat das Trio in der TV-Sendung „Soul Train“ und auch im Reseda Country Club in Los Angeles auf, wo Live-Material für das Video zu „Shadrach“ gefilmt wurde. Der aufwendig produzierte, im Rotoskopieverfahren hergestellte Animationsclip war nach „Hey Ladies“ die zweite und letzte Single. https://www.youtube.com/watch?v=MEVfHmjKOrM
Bei Schadrach, Meschach und Abed-Nego handelt es sich um biblische Figuren, die im dritten Buch Daniel beschrieben werden. Nebukadnezar ließ ein goldenes Standbild errichten, vor dem sich die „Fürsten, Präfekten, Statthalter, Ratgeber, Magistrate und alle anderen Beamten der Provinzen“ (Daniel 3,2) auf den Boden werfen und es anbeten sollten, sobald die Musik zu spielen begann. Schadrach, Meschach und Abed-Nego weigerten sich, die Statue anzubeten und wurden in einen heißen Ofen geworfen. Doch die Flammen konnten den drei Freunden nichts anhaben. Nebukadnezar musste sich eingestehen, dass ihr Gott die Männer gerettet hatte, nachdem er sie in Begleitung eines Engels im Feuer herumlaufen sah. Adam Yauch, der in jenen Tagen dazu neigte, LSD zu nehmen und dann die Bibel zu lesen, steuerte das Cover zur EP „An Exciting Evening at Home with Shadrach, Meshach and Abednego“ bei, welches zeigt, wie die Drei durch das Flammenmeer gehen. Für das stilprägende Stück „Shadrach“ wurden u.a. „Do Your Dance“ von Rose Royce, „Funky Drummer“ von James Brown sowie „Sugarhill Groove“ von der Sugarhill Gang und „Loose Booty“ von Sly Stone gesampelt. Eingeweihte sahen in dem Song eine Anspielung auf den ehemaligen Labelchef der Beastie Boys, Russell Simmons. Anstatt sich vor dem Def Jam-Gründer zu verneigen, der nach dem Erfolg von „Licensed to Ill“ Zahlungen verweigert hatte, verließen sie das Plattenlabel und wechselten zu Capitol Records.
Obwohl Musiker wie Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers ihren unverhohlenen Neid auf „Paul´s Boutique“ bekundeten und der Rapper Chuck D. von Public Enemy zugab, es sei ein „dirty secret“ in der schwarzen Hip-Hop-Community, dass die Beastie Boys die besten Beats hatten, erwies sich das aus dichten, zum Teil psychedelischen Samples und avantgardistischen Lyrics bestehende Album als kommerzieller Fehlschlag. Es reichte gerade einmal für Rang vierundzwanzig in den Top R&B/Hip-Hop-Albums Charts.
Zum zwanzigsten Geburtstag des heutzutage als Meilenstein der Sampling- und Reimkunst gefeierten Werks kam eine remasterte Version heraus, die erneut ein einhellig begeistertes Echo von Seiten der Musikpresse hervorrief. Vor nunmehr drei Dekaden gingen die Köpfe hinter „Paul´s Boutique“ schwanger mit ihren Ideen und brachten im Laufe der Jahre 1988 und 1989 das inzwischen allerseits bewunderte Kind auf die Welt. Dabei scherten sich Band und Produzenten nicht um Erwartungen, weder um monetäre noch um künstlerische, sondern erschufen mit Eigensinn und Chuzpe ein Opus Magnum für die Ewigkeit. Wie heißt es in dem Song „Shadrach“ – „They tell us what to do? / Hell, no!“