The Congos: Heart of the Congos

Dieser Artikel ist in der eXperimenta erschienen (Ausgabe: Januar 2017)

The Congos in Chartres, Oktober 2006 (Foto: Wikimedia Commons)

Wie aus längst vergessenen Zeiten klingt die das Album Heart of the Congos eröffnende, jeglicher Klarheit und Härte entkleidete Snare Drum, und stimmt die Hörerschaft ein auf gemächlich einsetzende Basslinien und den damit korrespondierenden, mystisch anmutenden Hall. Dezent platzierte Gitarrenklänge sprudeln aus den Lautsprechern, während Watty Burnetts brummender Bariton den Weg für „Ashanti“ Roy Johnsons Tenor ebnet und auf elegante Weise auch Cedric Mytons Falsettstimme ein massives, erdiges Fundament bietet. „Row, fisherman row“ – rudern soll der in einer kleinen Hafenstadt lebende, von den Launen der See abhängige Fischer, um die leeren Bäuche seiner hungrigen Kinder zu füllen. Im Opener Fisherman des zwischen 1976 und 1977 in Lee „Scratch“ Perrys Black Ark Studio aufgenommenen Reggae-Klassikers besingen The Congosdas einfache Dasein der vom Fischfang Lebenden, nicht ohne, wie so oft, biblische Bezüge herzustellen. Zwar wird von jenem Fischer in der dritten Person berichtet, aber doch scheint es das Vokaltrio selbst zu sein, welches mit seinem betörendem Gesang auf Fischfang geht und damit dem im Matthäusevangelium genannten Vers entspricht: „Und ich werde euch zu Menschenfischern machen“ (Mt 4, 19).

Cedric Myton, 1947 geboren in Old Harbour, Jamaika, betont in Interviews immer wieder, wie wichtig es für das Verständnis des Reggae seiner Gruppe sei, einen auf den Evangelien beruhenden, kirchlichen Hintergrund zu beachten, basiere seine Musik doch auf der Kultur der Nyabinghi, des ältesten Stammes der Rastafari. Für diese ihren Glauben am striktesten praktizierenden Rastas stellt die Bibel eine zentrale Schrift dar, auf die sich The Congosin beinahe jedem der Songs ihres Debütalbums beziehen. So ist der „churchical“ Background nicht im orthodoxen Sinne klerikal zu deuten, sondern in der täglichen Praxis der Nyabinghi zu verorten. Myton, neben „Ashanti“ Roy Johnson Gründer der ursprünglich als Duo auftretenden Band, stellt diesbezüglich klar, nur ein Ziel und ein Schicksal zu haben, und das sei „our spiritual work.“ Eng mit der Spiritualität verwoben ist die Musik, gehöre es doch zur Religion der den Weg der Gewaltfreiheit predigenden Nyabinghi, „vibes“ zu kreieren und auch auf diese Weise Achtsamkeit sowie die Reinheit des Herzens zu lehren. Die Rhythmen der Stammes-Gesänge beeinflussten musikalische Strömungen wie Ska, Rocksteady und eben Reggae. Dessen große Interpreten Peter Tosh und Bob Marley werden ebenfalls zu den Nyabinghi gezählt.

The Congosbeginnen ihren Gesang auf Heart of the Congos, neben Bob Marley and the Wailers´ Natty Dread und Max Romeos War ina Babylon einem der besten Reggae-Alben aller Zeiten, wie manch ein Kenner behauptet, mit der Ermahnung an einen Rasta-Fischer, genügend Nahrung für seine bereits drei Kinder umfassende Familie heranzuschaffen, geht seine Frau doch mit dem vierten schwanger. Sogleich erfolgt der direkte Vergleich mit den apostolischen Fischern, Simon, genannt Petrus, und dessen Bruder Andreas, sowie den Brüdern Jakob und Johannes, die zahllose hungrige Kinder zu sättigen haben, „millions of them“. Die drei Sänger kamen ursprünglich aus einem Fischerhafen und waren darauf bedacht, ihren Zuhörern zu verdeutlichen, dass es sich beim Text ihres bekanntesten Songs um eine Parabel handelt. Fisherman endet mit der Aufforderung an den Fischer, möglichst bald die Höhenlage zu erreichen, da sich ein starker Regensturm ankündigt. Erneut ist ein biblischer Bezug zu erkennen, vielleicht die Warnung vor einem apokalyptischen Ereignis wie der Sintflut. Vermeintlich harmlos erscheinen die lyrischen Aussagen, und entsprechen damit den beruhigenden Klängen der musikalischen Instrumentierung. Jedoch loten The Congos unter der ruhigen Oberfläche Tiefen aus, die den Hörern auf diesem Album noch öfter begegnen werden, etwa in den geheimnisvollen Lyrics des Songs Can´t come in, wo dem Adressaten erklärt wird, dass er solange an die Tür (zu Gottes Reich) klopfen kann, wie er will. Einlass wird nur dem innerlich Reinen gewährt: „You keep on knocking but you can’t come in / The door is locked on you“. Diese Feststellung wurde dem Lukas-Evangelium (Lk 13, 24) entnommen: „Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen; denn viele, sage ich euch, werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen nicht gelingen.“ Im dritten Titel des Albums Heart of the Congos geht es erneut darum, einen Durchgang zu öffnen, diesmal die Tore der Gerechtigkeit, respektive Zions.

In Open up the Gate thematisieren The Congos die Repatriierung, die sehnsuchtsvolle Möglichkeit der „Heimkehr“ nach Afrika, respektive nach Shashamane in Äthiopien. 1948 hatte der von den Rastafari als Gott verehrte Kaiser Haile Selassie I. Teile seines privaten Landbesitzes gespendet, um den vor allem jamaikanischen Angehörigen der religiösen Bewegung eine Rückkehr nach Afrika zu ermöglichen. Im Glauben der Rastafari spielt jener Ort eine große Rolle, und erlangte 2005 mediale Aufmerksamkeit, als Bob Marleys Witwe Rita ankündigte, ihren Mann zu exhumieren und in Shashamane neu zu beerdigen, weil hier dessen spirituelle Heimat zu verorten sei. Auch im vorletzten Song, Ark of the Covenant, welcher vom zunächst irritierenden Muhen einer Kuh eröffnet wird, besingen The Congos eine solche vorübergehende Heimstatt, die Arche Noah, auf der nicht nur Tierpaare, sondern auch Prinzen, Priester und Krieger vor der im Opener Fisherman beschriebenen Sintflut gerettet werden. Wohl ist anzunehmen, dass der Titel des Songs auf Lee „Scratch“ Perrys legendäres, einst in Kingston, Jamaika, beheimatetes Black Ark Studio anspielt, auf die schwarze Arche, wo Heart of the Congos aufgezeichnet wurde. Der weltberühmte Produzent, der zu jener Zeit auch die Single Complete Control von The Clash produzierte und öfter Besuch von Paul McCartney erhielt, brannte das im Garten seines Wohnhauses eingerichtete Studio im Jahr 1979 eigenhändig nieder, wegen negativer „vibes“, wie Cedric Myton erklärt. Perry selbst führt ein jüdisches Sprichwort an, um zu erläutern, weshalb er das, seiner Meinung nach die schlechte Energie in Jamaika absorbierende Black Ark Studio in Flammen aufgehen ließ: „If you don’t burn the demon, maybe you die instead of him.“

Für die Aufnahme einer seiner besten Arbeiten, dem hier vorgestellten Album, verwendete der Exzentriker ein einfaches Vierspurgerät von der Firma TEAC, während es Ende der 1970er längst üblich war, mit sechzehn Spuren aufzunehmen. Seine eigentümliche Arbeitsweise beschreibt der heutzutage in der Schweiz lebende, im März seinen einundachtzigsten Geburtstag feiernde Reggae-Schamane folgendermaßen: „It was only four tracks written on the machine, but I was picking up twenty from the extraterrestral [sic] squad “. Zwanzig Spuren empfing die sich mit exotischen Accessoires, wie CDs und Spiegeln, schmückende Musiklegende demnach von einer gewissen außerirdischen Truppe. Derartige Statements sind typisch für Perry, der 2003 für sein Album Jamaican E.T. mit dem Grammy geehrt wurde. 2010 taten sich The Congos ein weiteres Mal mit dem Meisterproduzenten zusammen und nahmen Back in the Black Ark auf, ein Album, welches natürlich nicht in der echten schwarzen Arche, sondern in „Ashanti“ Roy Johnsons  in Portmore, Jamaika gelegenem Lion´s Den Recording Studio aufgenommen wurde.

Noch immer touren The Congos und bringen neues Material auf den Musikmarkt. Auf die Frage hin, weshalb die in den späten 1940ern beziehungsweise frühen 1950ern Geborenen immer noch derart agil und aktiv sind, erwähnt „Ashanti“ Roy die Tatsache, dass er und seine Mitmusiker Nyabinghi seien, die den Sabbat einhalten und die gelegentlich bis zu sieben Tage und sieben Nächte am Feuer singen, musizieren, um auf diese Weise „the almighty“ zu preisen. Im Rahmen dieser grounations genannten Zeremonien werden Trommelrhythmen gespielt und hypnotische Gesänge angestimmt, die von den Traditionen der afrikanischen Sklaven herrühren. Eine transzendentale Ebene erreichen die Meditierenden auf diesem Wege, immer mit dem Ziel der spirituellen Erweckung im Auge, sagt Cedric Myton. Es gehe ihnen um die Erlösung der Menschen, auch um die nachträgliche Befreiung von der Sklaverei, blieben sich die menschlichen Wesen doch immer gleich, gleichgültig, ob hundert Jahre vergehen oder fünfhundert. Myton spricht von ein und derselben Generation, zu welcher schon Vorväter und Großväter zählten. Auch heute existiere dieses Volk noch und sei bei den Zeremonien der Nyabinghi zu beschwören.

Zu diesen Aussagen passt der magische Text des Songs Nicodemus, der die 1996er Version von Heart of the Congos abschließt. In diesem Jahr hatte der als Frontmann von Simply Red bekannt gewordene Sänger Mick Hucknall das klassische Album auf seinem Label Blood and Fire wiederveröffentlicht und um die Titel At the Feast und eben Nicodemus ergänzt. Hier heißt es, im Rekurs auf das Johannes-Evangelium, gleich zweifach: „You´ve got to be born again“. Das vom Evangelisten Johannes entlehnte Zitat trägt zum Verständnis der eher kryptischen, die eine Generation betreffenden Worten von Cedric Myton bei: „Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3, 7-8).