Dieser Artikel ist in der eXperimenta erschienen (Ausgabe: März 2017)

Franz Marc, Abstrakte Formen II, 1914. Öl auf Leinwand, 81,0 x 112,5 cm, © LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
Im März 1916 wird der sechsunddreißigjährige Leutnant der Landwehr, Franz Marc, im Feld von einem Granatsplitter getroffen und stirbt vor Verdun. Ein Jahr zuvor hatte der Münchener Maler den Krieg in einem Brief an Lisbeth Macke, Witwe des bereits 1914 gefallenen Freundes August Macke, als „gemeinsten Menschenfang, dem wir uns ergeben haben“ bezeichnet und sich damit von seiner früheren Geisteshaltung, derzufolge er den Krieg als Läuterung für ein krankes Europa und „positive Instanz“ verstanden hatte, distanziert. Abstrakte Formen II, gemalt vor seinem Antritt zum Kriegsdienst 1914, gelten, zusammen mit verschiedenen Alternativversionen, als letzte malerische Versuche des Künstlers.
Das heute in Münster zu findende Ölgemälde wirkt in seiner expressiven Farbigkeit und der dynamischen Formensprache wie die Vorwegnahme des Krieges, konkurrieren doch zwei unterschiedlich gestaltete Bildhälften miteinander, um, bei näherer Betrachtung, in einander überzugehen oder gar zu verschmelzen. Steht der Betrachter vor der Leinwand im LWL-Museum für Kunst und Kultur, nimmt er nach und nach die vielfältigen Formen und Farben wahr, einen Ruhepunkt findet das Auge, wie auch bei den vom sogenannten Simultaneffekt geprägten Bildern von Franz Marcs Vorbild Robert Delaunay, nicht. Wo auf der linken Seite von Abstrakte Formen II noch Gegenständlichkeit zu erkennen ist, hebt sich diese im kurvigen, von hellen Farbtönen geprägten Gezüngel zur Rechten vollständig auf. Franz Marcs Farblehre zufolge haben wir es links mit Aggression des „brutalen und schweren“ Rotzu tun, wie der Maler in einem Brief vom 10. Dezember 1910 an seinen Gefährten August Macke expliziert. Rot sei die Farbe der Materie, die von den beiden anderen Grundfarben „bekämpft und überwunden“ werden müsse. Mische man Gelb und Blau zu Grün, „so weckst Du Rot, die Materie, die Erde, zum Leben.“
Nicht nur Robert Delaunays Simultaneität, die Gleichzeitigkeit des Sehvorgangs, welche den Blick des Betrachters über die Bildoberfläche wandern lässt, um immer neue Formen und Abstraktionen zu entdecken, ist in diesem unvollendeten Werk von Franz Marc zu bemerken, sondern auch der Einsatz des Komplementärkontrastes. Rot und Grün, Gelb und Violett, Orange und Blau bilden in der von Franz Marc adaptierten Farblehre Komplementärfarben. Die Sehbewegung gleitet von links, wo bei längerer Betrachtung der Vorderteil eines rot-schwarzen Elefantenleibes und eine von beleuchteten Fenstern strukturierte Häuserwand sichtbar werden, nach rechts, in die Zone der ephemeren, zerbrochenen Formen. Das „brutale“ Rot korreliert mit dem ebenfalls Schwere ausdrückenden Schwarz, wird aber durch das dämpfende Grün vitalisiert, „zum Leben“ erweckt. Verschiedene Dreiecke, aggressive Spitzen, dominieren den Bildmittelpunkt und penetrieren den Leichtigkeit versinnbildlichenden rechten Sektor. Hier verwirren das Auge des Betrachters Halbkreise, welche wie die Schwingen von Vögeln aus dem oberen Bildraum hinaus gleiten. Florale Formen, an grünlich gefärbte Blätter und bunte Blüten erinnernde Muster, wiederholen die Farbigkeit des das Rot lindernden Grün, welches den Elefantenkorpus umgibt. Wie ein Panzer oder ein vergleichbares Kriegsgefährt versammeln sich die aus dem Rüssel des Dickhäuters hervorgehenden Zacken zu einer massiven Spitze, deren Endpunkt mitten in das Zentrum der flüchtigen Pflanzen- und Flammenformen hineinstößt. Diese gestaltet Franz Marc mit einer hellen, pastellenen Farbigkeit, lässt er doch eine von Weiß betonte Farbmischung aus den fliehenden Kreissegmenten sprechen. Flatterhaft vibrierende, an Vogelfedern mahnende Strukturen am rechten Bildunterrand heben sich in einer grünen Blattform und einer hellblauen Silhouette auf, die entfernt an einen Pferdekopf denken lässt, welcher die Rundung des Elefantenfußes wiederholt. Obwohl der rechte Bildbereich von Leichtigkeit beherrscht zu sein scheint, weckt das die floralen und animalischen Umrisse umgebende Feuer erneut kriegerische Assoziationen.
In einem „Das zweite Gesicht“ genannten Aphorismus von 1915 beschreibt der eifrig Bleistiftskizzen anfertigende Soldat das Geschehen wie folgt: „Ich war von seltsamen Formen umkreist, und ich zeichnete, was ich sah: harte, unselige Formen, schwarze, stahlblaue und grüne, die gegeneinander polterten, dass mein Herz vor Weh schrie (…)“. Das Kriegsszenario erregt im sensiblen Gemüt des Malers einen Eindruck von Uneinigkeit, von Zerspaltung und Zerstörung, schreibt er doch: „(…) denn ich sah, wie alles uneins war und sich im Schmerze störte. Es war ein schreckliches Bild.“ Diesen Zustand von seelischer Zersplitterung nimmt der Betrachter in Abstrakte Formen II bereits deutlich wahr. Marc, der eigentlich daran glaubte, dass alles mit allem zusammenhängt, wie er am 6. Mai 1915 seiner Frau Maria mitteilt, spürt das Leid am eigenen Leibe und drückt diesen desperaten Zustand dementsprechend in abstrakten Zeichnungen aus. Wie der Künstler immer wieder hervorhebt, geht es ihm vor allem um die „Animalisierung der Kunst“. Diese bestehe im doppelten Sinne, namentlich in der Beseelung (Seele – „anima“) wie auch in der intensiven Beschäftigung mit Tiermotiven (Tier – „animal“). Für Franz Marc ergibt sich die Reinheit, nach der er in seiner Kunst strebt, in der Darstellung des Menschen weg zum Tier und schließlich zur Abstraktion. In einem Brief an Maria schildert er diesen Prozess wie folgt: „Der unfromme Mensch, der mich umgab, (vor allem der männliche) erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ.“ Vom Tier weg habe ihn schließlich sein Instinkt zum Abstrakten hin geleitet, zum zweiten Gesicht, welches ganz „irdisch-unzeitlich“ sei und in welchem das Lebensgefühl ganz rein erklinge.
Eine solche, esoterisch anmutende Äußerung passt ganz zu Franz Marcs Beschäftigung mit dem Alten Testament, der indischen Reinkarnationslehre bis zu Nietzsche, aber ebenfalls zu mittelalterlicher Mystik und zu Rudolf Steiner, dem von Wassily Kandinsky verehrten Anthroposophen. Spuren der Theosophie finden sich in Franz Marcs Schriften und Briefen, so auch in dem oben zitierten, an seine Frau gerichteten. Kandinsky, der 1910 den Aufsatz „Über das Geistige in der Kunst“ verfasst hatte, orientierte sich an Steiners philosophischem System und erörtert die Frage, wie Formen und Farben selbst etwas ausdrücken können, ohne an Gegenstände gebunden zu sein. Der russische Maler, dessen Bild „Der Blaue Reiter“ der Bewegung ihren Namen gab, veröffentlichte 1912 eine weitere Abhandlung, „Über die Formfrage“, in welcher er notiert, dass das „Große Abstrakte“ nur denkbar sei in völliger Trennung vom „Großen Realen“. Diese Schrift wurde in einem Almanach publiziert, den die an der Redaktion beteiligten Freunde Franz Marc und August Macke „Der Blaue Reiter“ tauften. Zusammen mit Robert Delaunay und Henri Rousseau veranstaltete die Gruppe im Dezember 1911 eine Ausstellung in München. Paul Klee kam kurze Zeit später hinzu, doch bereits nach zwei Jahren zerstörte der Kriegsausbruch die gemeinsamen Ansätze. Der von Franz Marc eingeschlagene Weg der Einheit von Abstraktion und Realvorstellungen, von expressiver Dynamik und konstruktivem Bildbezug fand nach dessen Tod keine Fortsetzung. Über sich und seine Kollegen sagt der Maler im Almanach „Der Blaue Reiter“, ihr Denken habe ein anderes Ziel. Durch ihre Arbeit wollten sie für ihre Zeit Symbole schaffen, „die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.“ Als spiritueller Sinnsucher findet sich Franz Marc nicht mit dem Christentum ab, sondern forscht nach einer Religion „sehr geistig und magisch, okkult, aber tausendmal edler als die christliche (…).“
Die im Ersten Weltkrieg angefertigten Bleistiftkompositionen sind nicht nur von negativen Eindrücken bestimmt, setzt Franz Marc doch den düsteren, martialischen Formen heitere, leichte entgegen. Immer wieder zeichnet er in seinem Skizzenbuch Pferde und die uns in Abstrakte Formen II begegnenden, schwingenden Flügelformen. In der gleichen Zeit wie das hier vorgestellte, entstand das heute in München befindliche Gemälde Kämpfende Formen (Abstrakte Formen I), dessen Titel der Maler erst an der Kriegsfront wählte. Wie auch Abstrakte Formen II ist dieses Werk historisch zu lesen, als Vorahnung der blutigen Auseinandersetzung, der Katastrophe und wohl auch des eigenen Todes. Trotz der durch die dräuende Weltzerstörung ausgelöste, dunkle Stimmung sorgt Franz Marc in seinen letzten Bilden und Skizzen für Balance, für einen Ausgleich der miteinander ringenden Kräfte. So beschreibt der bereits angeführte, von 1915 stammende Aphorismus „Das zweite Gesicht“ nicht ausschließlich Uneinigkeit, Destruktion und Schmerz, sondern auch die unsagbare Schönheit aller Dinge: „Meine ausschwärmende Sehnsucht sah ein anderes Bild, das tiefe Bild: Die Formen schwangen sich in tausend Wänden zurück in die Tiefe. Die Farben schlugen an die Wände, tasteten sich an ihnen entlang und entschwanden in der allerletzten Tiefe. Jeder schrie vor Sehnsucht, der dies Bild sah. Unsre Seelen zogen den Farben nach in die letzte Tiefe. Wie unsagbar sind alle diese Dinge. Wie unsagbar schön.“