Münster, den 27. April 2020
Zur Veröffentlichung eines ungehörten, „vor einer Weile“ aufgenommenen Songs, wünscht uns Bob Dylan, Musiker und Literat, Folgendes: „Stay safe, stay observant and may God be with you.“ Vordergründig geht es in dem Klagelied „Murder Most Foul“, der Titel ist ein aus Shakespeares „Hamlet“ entliehenes Zitat, um die Ermordung John F. Kennedys im November 1963. Allegorisch verhandelt das über siebzehn Minuten dauernde Stück jedoch nicht weniger als die dräuende Apokalypse Amerikas in der Gegenwart. Wenn man noch weitergehen möchte, so könnte man sagen, Literaturnobelpreisträger Dylan beklage den allgemeinen Verlust der Seele, weltweit. Am Tag des Attentats auf den US-Präsidenten habe das Zeitalter des Antichristen begonnen, dies habe ihm, dem lyrischen Ich des Songs, zumindest jemand gesagt: „(…) The age of the Antichrist has just only begun.“
Dylan versetzt sich in lyrisch in Kennedy hinein, „(…) riding in a long, black Lincoln limousine / Riding in the backseat next to my wife / Heading straight on in to the afterlife“, um festzustellen, dass der Mörder zwar dessen Körper getötet hätte, aber nicht die Seele. Nach der suche man vergeblich, seit über fünfzig Jahren. Von betörender Schönheit sind diese sinistren Verse, begleitet von stiller Hintergrundmusik. Wo Dylan den Verlust der Wahrheit in unserer Welt diagnostiziert, spricht er düstere, metaphysische Wahrheiten aus, die auf mannigfaltige Weise interpretiert werden können. Eine solche kryptische Botschaft enthält etwa der Vers: „I hate to tell you, mister, but only dead men are free“. Die Seele betrachtet Dylan offenbar als eine vom Leib trennbare Substanz, die gewissermaßen unsterblich ist. Vom Körper befreit, schwebt sie in Freiheit umher, die Seele des getöteten Präsidenten; weiter gefasst: die Seelen der Verstorbenen. Wie gewohnt, verkündet Dylan abgründige Wahrheiten, denen der Ruch von Ewigkeit anhaftet. Das macht seine Songs und Texte so stark, so unwiderstehlich. Sie stellen ein Paradies für Interpreten dar, die deutungswütigen, sogenannten Dylanologen.
Auf einer sachlichen, nüchternen Ebene ist im Song „Murder Most Foul“ vom Verfall Amerikas die Rede. Obwohl der Song älteren Datums ist, darf dessen Inhalt wohl auf die Präsidentschaft Donald Trumps bezogen werden, und damit auch auf den Höhepunkt der Corona-Krise Ende März 2020, als Dylan sein Stück veröffentlichte. Darüber hinaus hat das vom Urheber eher gesprochene als gesungene Totenlied eine universelle Bedeutung. Die Seele (einer Nation) sei hinfort gerissen worden, teilt uns Dylan mit, und ein langsamer Niedergang habe begonnen, während die Uhr anzeige, dass der Jüngste Tag bereits sechsunddreißig Stunden zurückliege. Einen Teufelspakt habe das lyrische Ich in Dallas geschlossen, am Dealy Plaza, dem Ort des Kennedy-Attentats, wo „faith, hope, and charity died“. Indes kann nicht getötet werden, was unsichtbar ist, wie die Seele: „See if you can shoot the invisible man“.