Vincent van Gogh: Der Garten des Hospitals von Saint-Rémy

Dieser Artikel ist in der eXperimenta erschienen (Ausgabe: Januar 2017)

Vincent van Gogh: Le parc de l’hôpital, à Saint-Rémy, 1889, Öl auf Leinwand, 73,1 x 92,6 cm, Museum Folkwang Essen

Von einem „stolz Besiegten“, einem „dunklen Riesen“ berichtet Vincent van Gogh im November 1889 in einem Brief an den befreundeten Maler Émile Bernard, und schreibt damit der verstümmelten, aber dennoch mächtigen Pinie im Garten der Nervenheilanstalt Saint-Paul-de-Mausole menschliche Eigenschaften zu. Im Zentrum des im Herbst jenes Jahres entstandenen Ölgemäldes ragt dem Betrachter der um einen dicken Ast beschnittene Stamm des Kieferngewächses entgegen. Zwei steinerne Bänke umrahmen den Fuß des Nadelbaums; eine ist parallel zum von weißen Rosen bewachsenen Fußweg angeordnet, die andere deutet wie ein Pfeil in Richtung der hinter den Gartenmauern gelegenen, in Blau- und Ockertönen gestalteten Ausläufer des Alpillen-Gebirges. Die rotbräunlich gefärbte Mauer markiert das untere Drittel der Bildkomposition und schließt drei menschliche, zwischen Pinien und Rosenbüschen flanierende Figuren ein.

Diese vermeintlich friedliche Szene spiegelt sicherlich auch Vincent van Goghs Gemütszustand wider, der sich nach einem schweren Anfall im Sommer, in dessen Verlauf der Erkrankte versuchte, giftige Farben zu schlucken, stabilisierte. Obgleich der Unheil versinnbildlichende Seitenstumpf der Pinie das Gemälde auf den ersten Blick zu dominieren scheint, darf nicht der zweite Ast bei der Bildbetrachtung vergessen werden, der „hoch in die Luft“ ragt und „einen Regen dunkelgrüner Nadeln niedergehen“ lässt, wie der wieder zu Kräften gekommene Urheber dieses Werkes feststellt und ergänzt, dass die Malerei „eine Erholung“ für ihn darstelle. Als lebhaft und quirlig sind die in sich gedrehten, strudeligen Nadeln der übrigen, unverletzten Pinien zu bezeichnen, deren mannigfache Grüntöne sich vom gelblich-blauen Abendhimmel abheben, und dennoch harmonisch das Formenspiel von Wolken und Lichtbahnen untermalen. Im von der Mauer begrenzten Garten begegnet dem Betrachter die von Menschenhand gezügelte Kraft der Natur, etwa durch die vom Maler diagonal positionierten Rosenbüsche, die umschatteten Buchsbaumsträucher, und eben durch den gekappten Stamm des „dunklen Riesen“. Gelbtöne bekleiden nicht nur den Stumpf des Baumes, mit dem sich Vincent van Gogh auf symbolischer Ebene identifizierte, sondern auch die schlichte Fassade der Rückseite des Sanatoriums, vor welcher sich zwei Spaziergänger befinden.

Tritt man heutzutage an das zum Garten der Anstalt hinausführende Fenster von van Goghs einstigem Zimmer, so ist das Panorama nachzuempfinden, welches auch dem zunächst dort Verweilenden entgegentrat, als er in Saint-Rémy-de-Provence malerisch tätig wurde. „Seit sechs Wochen habe ich keinen Fuß aus dem Hause gesetzt, nicht mal im Garten bin ich gewesen; aber nächste Woche will ich es versuchen“, notiert der laut Dr. Théophile Peyron, dem Leiter der Heilanstalt, an Epilepsie Leidende, bevor er tatsächlich beginnt, die Pinien und den Innenhof in Öl zu bannen. Schon kurz nach seiner Ankunft in der ehemaligen Abtei, am 3. Mai 1889, schuf der Maler einige Werke, zögerte aber zunächst, nach draußen zu gehen. Nach dem schweren Anfall im Juli wiederholt sich dieses Verhalten. Van Gogh zieht es vor, aus seinem Zimmer, welches mit den massiven Metalltüren und den mit Balken verstärkten Fenstern eher eine Zelle gleicht, hinausblickend Ansichten des Gartens und der bergigen Landschaft zu malen.

Theo van Gogh bat den Anstaltsleiter Dr. Peyron, bevor sein Bruder sich nach Saint-Rémy-de-Provence begab, um das Zugeständnis, dass Vincent außerhalb des Geländes der Klinik malen dürfe. Dieser, wie auch Peyron, betrachtete die Malerei als Therapie, ohne die es ihm „schlechter gehen“ würde. Darüber hinaus verfocht der ehemals in Marseille praktizierende, auf Geisteskrankheiten spezialisierte Arzt die Hydrotherapie. So musste sein künstlerisch überaus produktiver Patient zweimal pro Woche für jeweils zwei Stunden ein Bad nehmen. Auch sonst fiel die Behandlung relativ harmlos aus, Nervenleiden wurden mit Beruhigungsmitteln bekämpft und für die am stärksten Verwirrten gab es Opiate. Im Haus herrschte ein ruhiges, friedliches Klima, denn die meisten Insassen „taten überhaupt nichts“, wie van Gogh moniert. Arbeitete er im Freien, kamen Mitpatienten hinzu und sahen ihm zu.

Sein Malstil änderte sich während des Aufenthaltes in der Heilanstalt Saint-Paul-de-Mausole. In der Darstellung des Hospitalgartens ist zu erkennen, wie der Schöpfer seine Striche rhythmisiert und in Kreisen, Spiralen oder Wellenlinien anordnet. Als bekanntestes Beispiel für die Anwendung dieser Wellentechnik darf wohl die im Sommer 1889 in Saint-Rémy-de-Provence entstandene, heute im New Yorker Museum of Modern Art befindliche Sternennacht gelten. Während hier die über dem Dorf platzierten Strudel und volutenartigen Kreislinien die Szenerie am Nachthimmel beherrschen, werden sie in der Abbildung des Anstaltsgartens linearen Strukturen, Bänken, Mauern, Fußweg sowie Hausfassade, gegenüber gestellt. Doch dieses geometrisch anmutende Raster kontrastiert mit dem wilden Wuchs der herum wirbelnden Pinienäste und dem Unruhe hervorrufenden, in schweren Rottönen gestalteten Boden. Eine bedrohliche Stimmung im Garten sieht van Gogh vor allem durch die Farbgebung inkarniert, bilden doch roter Ocker, durch Grau verdüstertes Grün und jene schwarzen, die Bildflächen voneinander abgrenzenden Konturen ein „Schwarz-Rot“ genanntes Angstgefühl, „unter dem manche meiner Unglücksgefährten oft zu leiden haben“.

Dass sich Vincent van Gogh so unmittelbar in das von ihm Dargestellte hineinzuversetzen vermag, hängt wohl mit den zeitgleich entstandenen Gethsemane-Szenen seiner Malerfreunde Émile Bernard und Paul Gauguin zusammen. Der offensichtlich symbolische Bezug, primär verkörpert durch die vom Blitz getroffene und dann mit einer Säge gestutzte Pinie, welche van Gogh als Analogie zu einem gefallenen Riesen sah, tritt in den, Biblisches thematisierenden Arbeiten seiner Kollegen ungefiltert hervor. Van Gogh selbst, der in Briefen an die Gefährten hervorhebt, dass „unsere Aufgabe im Denken und nicht im Träumen liegt“, betont die Wichtigkeit, das Religiöse diskret und mit moderner Empfindsamkeit mitzuteilen. Dennoch sah er das Bild als Möglichkeit des Ausdrucks von „Pein, ohne einen direkten Bezug zum aktuellen Gethsemane-Garten herzustellen“.

Schmerzhaft war auch der Grund, weshalb Vincent van Gogh im Mai 1889 ins Sanatorium einzog. Vorausgegangen war im Dezember 1888 ein heftiger Anfall, in dessen Verlauf der Maler unter nicht vollends geklärten Umständen einen Teil seines linken Ohres verlor. Die weltberühmt gewordene, mit einem Streit mit Paul Gauguin einhergehende, Episode gilt als erste Manifestation von van Goghs Erkrankung. Wegen des hohen Blutverlustes wird er zunächst zwei Wochen lang im Krankenhaus von Arles behandelt. Schon kurz nach der Entlassung bedingt ein weiterer Anfall im Februar 1889 einen erneuten Aufenthalt in jenem Hospital. Aufgrund einer Petition von besorgten Bürgern, die sich vor Vincent van Goghs „unheimlichem“ Verhalten fürchten, kommt es zu einer Zwangsinternierung, die aber bereits im April aufgehoben wird.

Im Hospital Saint-Paul-de-Mausole schwankt die Stimmung des Malers zwischen Weltschmerz und Wohlergehen. Diese Seelenlage lässt sich auch im Gartengemälde ablesen, das eine idyllische Szene zeigt, deren Bedrohlichkeit dem Betrachter erst auf den zweiten Blick auffällt. In der Umgebung des im 12. Jahrhundert erbauten, nach der Französischen Revolution in eine private Heilanstalt umgewandelten Klosters findet sich eine pittoreske, von den Hügeln der Kalksteinkette Alpillen durchzogene Landschaft, welche van Gogh vielfältige Motive bot. Allein der Blick aus dem Fenster der auch heute noch als Klinik genutzten, ehemaligen Abtei genügte, um die Schönheit des Ortes einfangen zu können. Obgleich van Gogh seine Arbeit als heilsam betrachtete, kam es kurz nach dem Weihnachtsfest 1889 zur Tragödie, fiel er doch in geistige Umnachtung, versuchte ein weiteres Mal, Farben zu schlucken und war infolgedessen unfähig zum Kontakt mit der Außenwelt. Während dieser Zeit gelang es Theo van Gogh, mehrere Gemälde seines Bruders zu Ausstellungen avantgardistischer Kunst einzureichen und so erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Reaktionen waren durchweg positiv und zu Beginn des neuen Jahres wurde sogar eines der Bilder, Die roten Weingärten von Arles, verkauft. In der Heilanstalt in Saint-Rémy-de-Provence fühlte sich van Gogh zunehmend eingeengt, so entschloss er sich, in den Norden zu gehen. In Auvers-sur-Oise begab sich der immer wieder von Anfällen Heimgesuchte in die Behandlung des Arztes Dr. Paul Gachet. Hier überkam van Gogh ein wahrer Schaffensrausch, schuf er doch innerhalb von siebzig Tagen um die achtzig Gemälde und sechzig Zeichnungen. Es sollten die letzten Werke werden, denn am 27. Juli schoss sich van Gogh eine Kugel in die Brust, um zwei Tage später im Beisein seines Bruders Theo an den Folgen der Verletzung zu sterben.

Sein Vermächtnis ist gigantisch, zählt Vincent van Gogh heutzutage zu den beliebtesten Künstlern, deren Werke Höchstpreise auf dem Kunstmarkt erzielen. Aber kann diese Tatsache die Seelenqualen eines Mannes aufwiegen, der alles für die Kunst opferte? Immer wieder haderte das Genie mit seinem Lebensentwurf, in den letzten Briefen schlägt van Gogh einen von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägten Ton an: „Ich glaube bestimmt, es ist besser, Kinder großzuziehen, als seine ganze Nervenkraft dranzusetzen [sic], Bilder zu malen; aber was soll man machen, jetzt bin ich zu alt, um umzukehren“. Das hier diskutierte, den Hospitalgarten von Saint-Rémy-de-Provence zeigende Werk ist vor allem so einzigartig, weil es der Maler in dem Schreiben an Émile Bernard ausführlich beschreibt und auf seine seelische Situation hin interpretiert. Als „dunklen Riesen“ bezeichnet der mit der Krankheit Ringende jene im Garten stehende Pinie, und definiert sie als „lebendes Wesen“, sowie „stolz Besiegten“. Dieser Leidensstolz ist es, der dem Betrachter in den letzten Arbeiten Vincent van Goghs entgegentritt. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens nimmt sich der geniale Maler das Leben, doch seine Gemälde wirken für die Ewigkeit.