Die Kriegsgräberstätten sind die großen Prediger des Friedens, und ihre Bedeutung als solche wird immer mehr zunehmen.
Albert Schweitzer
Im Keller seines Elternhauses erfassten Martin Kohnesch oftmals brutale Alpträume, die das Blut in seinen Adern gefrieren ließen. Er war sich sicher, dass hier, zweieinhalb Meter unter der Erde, Wesenheiten existierten, uralte Geister, deren Grabmal seine Eltern Heiner und Margot unabsichtlich geschändet hatten, als sie das im toskanischen Stil gestaltete Gebäude auf dem Acker errichteten, welchen sie einem Großbauern abgekauft hatten. Regelmäßig fuhr Martin zu seinen Eltern, um sich von seinem anspruchsvollen Job als Pharmazeut zu erholen. Besonders im Winter liebte er die Aufenthalte im Örtchen Zweien, wo seine Eltern stets die Sauna anheizten, sobald ihr einziger Sohn eintraf. Hoher Schnee lag, Sterne funkelten am Himmelszelt, ein gelblicher Halbmond lag mit seiner Sichel auf dem weißblauen Wolkenberg und Martin legte sich auf die den Rasen überdeckende Schneeschicht, um Schneeengel zu machen. Verspielt wie in Kindertagen rieb er sich mit den eisigen Kristallen ein, um seine schwitzende Haut zu kühlen. Am Ende der Prozedur duschte er sich noch mit eiskaltem, aus dem Gartenschlauch spritzenden Wasser ab und ging dann ins Haus. In einem viel zu kleinen, seiner Mutter Margot gehörenden Bademantel und dicken Wollsocken steckend, legte er sich auf eine Couch, um eine Vorabendserie im Fernsehen zu schauen. Die Gemütlichkeit konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich fürchtete und sogar Panikattacken erlitt, sobald er im Keller, wo auch die Sauna stand, ins Bett ging. Margot bezog die Ausziehcouch mit frischen, wohlduftenden Laken. Ihre Mütterlichkeit betörte und berührte ihn. Heiner und Margot waren nun um die achtzig Jahre alt, und Martin vermied es, daran zu denken, dass sie eines Tages nicht mehr bei ihm sein würden.
Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, verbrachte er den Großteil seiner Tage im Labor eines Kosmetikherstellers. Es kam häufiger vor, dass militante – wie auch friedliche – Tierschützer der Firma Tierquälerei vorwarfen, erprobten die Wissenschaftler doch ihre Produkte an Rhesusaffen und Artverwandten. Die Proteste berührten Martin emotional und brachten ihn zum Nachdenken. Vom Nachtmahr gebeutelt, hoffte Martin, die martialischen Träume loszuwerden, wenn er die Wochenenden in Zweien verbrachte. Hier, zwei Stunden von der Metropole Monasteria entfernt, wollte Martin sein überanstrengtes Gemüt beruhigen.
Hans, der Nachbar der Familie Kohnesch, war ein schwerer, bei den Stadtwerken angestellter Trinker gewesen. Mit seiner deutlich jüngeren, vom bulgarischen Goldstrand stammenden Geliebten, hatte er ein Haus neben jenes von Heiner und Margot gesetzt, das einer Festung glich. Martins Mutter nahm sich Hans an, als sein Alkoholismus immer heftigere Ausmaße zeitigte. Die Folgen waren gravierend. Margot, eine gute Seele, die schlecht nein sagen konnte, unternahm alles in ihrer Macht Stehende, um Hans zu helfen. Ständig war sie nachts unterwegs, um den Alkoholkranken zu suchen, der im Graben gelandet oder vor der Haustüre gestrandet war. Das Drama endete tödlich. In einer vor Kälte klirrenden Februarnacht hatte sich Hans sturzbetrunken ins Auto gesetzt, um an der nächstgelegenen Tankstelle Wodka zu kaufen. Kurzum: Hans erfror in seinem Opel-Kombi. Im Dorf Zweien munkelte man, dass die bulgarische Hexe ihre Hände im Spiel gehabt habe, die man bereits früher mit schwarzer Magie in Verbindung brachte.
Martin lag bäuchlings auf der dreißig Zentimeter dicken Schneeschicht, formte mit seinen Armen Engelsflügel, um daraufhin im elterlichen Garten herumzulaufen. Die Eiseskälte ließ seine Zehenspitzen taub werden. Plötzlich erblickte er einen Schatten auf dem Nachbargrundstück. Es handelte sich um Wera, Hans´ ehemalige Partnerin. Die aus der am Schwarzen Meer gelegenen Stadt Nessebar Kommende betrachtete den nackten Nachbarn und stellte klar: „Mich bekommst du hier nicht weg, ich bleibe für immer.“
Für den abergläubischen Pharmazeuten, dessen luzide Traumwelten von Hexenwesen bevölkert waren, hatte dieser Satz etwas Doppeldeutiges, Geheimnisvolles, das ihn stark verunsicherte, um nicht zu sagen: schockierte.
Im von einem greisen Historiker betriebenen Archiv des Orts Zweien stieß Martin Kohnesch auf Akten aus dem Zweiten Weltkrieg. Martin hatte gezielt nach Zeitdokumenten gesucht, die Informationen zu jenem Ort aufwiesen, wo die Kohneschs ihr Haus gebaut hatten. Martin stutzte, als er in Erfahrung brachte, dass auf dem Acker im Jahre 1940 Erschießungen von Kriegsgefangenen stattgefunden hatten. Einer Geheimnotiz des Reichsministeriums zufolge wurden die Leichen in einem Massengrab verscharrt. Der Pharmazeut meldete sich krank, um sich intensiver mit der Geschichte des Orts auseinandersetzen zu können. Im Mittelalter, als die Pest in Zweien wütete, waren Erkrankte auf diesem Acker in Quarantäne geschickt worden. Niemand überlebte. Und so wurden die Leichname verbrannt und ihre Asche im örtlichen Fluss, der Wetzel, verstreut. Eine ebenso kaum messbare Anzahl von Menschen ließ hier ihr Leben während einer Schlacht im Dreißigjährigen Krieg. Zu Barockzeiten und darüber hinaus sogar bis ins 19. Jahrhundert waren auf dem Stück Land unliebsame Personen, gesellschaftlich Ausgestoßene exekutiert worden. Vermeintliche Hexen und Verbrecher wurden hier aufgeknüpft oder mit dem Richtschwert getötet, weil eine Guillotine zu teuer gewesen wäre. In Anbetracht dieser historischen Quellen wurde Martin übel, als er das Archiv verließ. Er wusste jetzt um die finstere Historie des Dorfes Zweien und war davon überzeugt, dass sie zyklisch ablief, wie die Menschheitsgeschichte überhaupt.
Gegen Ende des Jahres 2020 vernahm er erstmals Meldungen aus China, wo eine tödliche Seuche ausgebrochen war. Es war von Fledermäusen die Rede, die ein Virus auf den Menschen übertragen hatten. Bald erreichte es auch Deutschland. Heiner und Margot infizierten sich und wurden im hiesigen Krankenhaus isoliert. Martins Eltern ging es sehr schlecht und die Ärzte prophezeiten einen schweren Verlauf, gab es doch kein Gegenmittel gegen das Virus. Die Seuche breitete sich im Ort Zweien in rasender Geschwindigkeit aus und die Bewohnerinnen und Nachbarn gaben den Kohneschs die Schuld, waren sie doch die ersten Erkrankten, die Patienten Null, gewesen. Es mutete an, als sei erneut das düsterste Mittelalter angebrochen.
War es denkbar, dass Zweien deshalb von einem so mächtigen wie teuflischen Fatum im festen Griff gehalten wurde, weil der Ort aufgrund des Blutes verflucht worden war, welches hier vergossen wurde? Diese Frage hatte sich Martin bereits vor Jahren gestellt, als er im Archiv Akten sichtete. Hinsichtlich des Phänomens der Determiniertheit der menschlichen Existenz hatte er sich auch mit Karma beschäftigt und daraufhin bei dem Pharmalabor gekündigt, um das mit seinem eigenen verknüpfte Schicksal der Versuchstiere aufzuarbeiten. Auf diese Weise versuchte Martin, sich von den Sünden zu reinigen, die die Ursache für seine schrecklichen Träume gewesen waren, wie er vermutete. In der Tat verbesserte sich sein seelischer Zustand, doch die Alpträume wurde er nicht los. Die Seuche ging im Jahre 2022 langsam vorüber. Das Pharmaunternehmen, für das Martin tätig gewesen war, hatte einen Impfstoff entwickelt und Unsummen damit verdient. Martin betrachtete die Tatsache, dass man sich den Impfungen nicht entziehen durfte oder konnte, äußerst kritisch und war sich auch darüber im Klaren, dass Nebenwirkungen nicht auszuschließen waren, die möglicherweise noch Jahre später auftreten konnten.
Die Kohneschs galten als Personae non gratae im Dorf. Sie verkauften schweren Herzens ihr Haus und zogen zusammen mit ihrem Sohn nach Norwegen, der im Auftrag eines Bergenser Labors die Auswirkungen von in der Erde gespeichertem Erbgut auf die in der Gegenwart lebenden Bewohner untersuchen sollte. Seine Forschungen ergaben, dass die teilweise mehrere Jahrtausende alten Gene mit dem Grundwasser aufgenommen wurden und einen erheblichen Einfluss auf den Gesundheitszustand hatten. Was ihn aber überraschte, war die Tatsache, dass die uralte DNS auch psychische Konditionen beeinflusste. An Orten, wo in der Vergangenheit besonders schreckliche Dinge geschehen waren, schien es eine Tendenz zu geben, dass sie sich dort wiederholten. Immer und immer wieder. Im Zirkel.
Als hochbetagter Mann kehrt Martin Kohnesch nach Zweien zurück. Die Pandemie hatte weltweit mehreren Millionen von Menschen das Leben gekostet. Aus Norwegen hatte der Pharmazeut fliehen müssen, weil erneut die Barbaren an die Macht gekommen waren, die bereits in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts Europas Erde in ein Massengrab verwandelt hatten. Auch hier, in Deutschland, muss Martin äußerst vorsichtig sein. Denn er weiß etwas, das niemand wissen soll. Die Blumenfelder von Verdun sind deshalb so rot, weil hier so viel Blut vergossen wurde, heißt es.
An der Stelle, wo sich einst sein Elternhaus befand, stößt er auf eingezäunte Baracken. Auf Anfrage beim Zweiener Archivar hin, erfährt Martin, dass dort Quarantäne-Stationen standen und dass immer noch davor gewarnt wird, sich in diesem Areal aufzuhalten. In einer Vollmondnacht verlässt Martin die Pension, wo er unter falschem Namen logiert. Er observiert das Gelände und stellt fest, dass dort etwas im Gange ist. Leise Stimmen sind zu hören, dann ein abrupter, unmittelbar erstickender Schrei und ein Knacken. Im Mondlicht sieht Martin an der Holzwand des Hauptgebäudes den Schatten eines am Strick pendelnden Gehenkten.
Er erschrickt, als ihm der Archivar die Hand auf die Schulter legt und sagt:
„Es ist so weit. Die Barbaren sind wieder am Ruder. Sie müssen hier weg, Herr Kohnesch.“
Gedankenverloren nickt Martin.
„Wir leben und sterben in Zyklen. Menschen kommen und gehen, so wie sich Geschichte wiederholt. Und auch wir müssen diese Kreisläufe durchschreiten. Bis wir endlich Ruhe finden.“
Diese Geschichte erschien in der Experimenta im März 2025.