Der Dalai Lama hat es sich zur Gewohnheit gemacht, zu Beginn seiner Vorträge und Meditationen das Herz-Sutra zu intonieren. In gutturalen Tönen gibt Seine Heiligkeit die schamanisch anmutenden Zeilen auf Tibetisch wieder, um, wie Giulia sagt, die Luft zu reinigen. Dieses spezielle Sutra, welches während des Ein- und Ausatmens gesprochen wird, sorgt dafür, dass Dämonen und böse Geister wegrennen, erklärt mir Giulia, die ich bei einer Familienfeier kennenlernte. Aus Ravenna stammend, studierte meine heutige Ehefrau in meiner Heimatstadt Monasteria Humanmedizin, um sich bald von diesem, laut Giulia: materialistischen Betätigungsfeld abzuwenden, und der alternativen Medizin zu frönen. Giulia, die nun bei mir eingezogen ist, war lange Zeit Apologetin von Rationalismus und Pragmatismus.
Dass die Grenzen der Wahrnehmung und auch die Limits des Denkens kinderleicht überwunden werden können, lernte Giulia von ihrem Mentor, Dechen, dem Interpretator und Übersetzer des Dalai Lamas. In Anlehnung an den Wiener Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, vertrat Giulia über Jahre die These, dass die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuteten.
Doch dann kam der Zusammenbruch, die Fehlgeburt und die Trennung von ihrem Ehemann, der, ebenfalls in der westfälischen Metropole, ein Medizinstudium, genauer gesagt: forensische Medizin, aufgenommen hatte. Theo, überzeugter Materialist und Anhänger eines eher mechanistischen Weltbildes, vermochte mit dem Tode des von ihm gezeugten Kindes nicht fertigzuwerden. Abrupt, mit Giulias Worten: kaltherzig und bösartig, verließ er die junge Italienerin. Die Krise, die Giulia durchmachte, sorgte für eine vollständige Umwertung ihrer Wertmaßstäbe. Giulias Schockkur, mit einem fundamentalen Niedergang und einem existenziellen Neustart einhergehend, wurde von einer zufälligen Begegnung ausgelöst. Heute sagt Giulia, es gebe keine Zufälle, da alles determiniert sei. Damals, es war der Herbst des Jahres 2007 und der Dalai Lama erhielt die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Chemie und Pharmazie der Universität Monasteria, war Giulia vom erheblichen Blutverlust im Rahmen der missglückten Geburt immer noch dermaßen geschwächt, dass sie sich, sie war auf dem Weg zu ihrer Wohnung, auf den aus Sandstein gefertigten Stufen des Portals jener Fakultät niederließ, wo bräunlich-rote Ahornblätter umherwehten und ein unscheinbarer, asiatisch aussehender Mann in Jeans und Wollpullover sich nach ihrer Befindlichkeit erkundigte, in einem fremdartigen Englisch. Giulia, die sich bei dem bebrillten Asiaten mit dem kurzgeschorenen Haar bedankte, wusste nicht, dass sich der Dalai Lama gern inkognito unter die Menschen mischte, um Städte, in diesem Falle Monasteria, zu erkunden. Der Ozean der Weisheit, so die gängige Übersetzung des Titels Dalai Lama, zeigte sich äußerst besorgt, als er Giulias fahler Gesichtsfarbe gewahr wurde und gab ihr Mineralwasser zu trinken. Dabei wiederholte er immerzu ein, wie sie seinerzeit vermutete, Mantra in tibetischer Sprache. Wenige Wochen später sprach auch Giulia dieses Mantra, eigentlich ein Sutra, also ein Sinnspruch, wieder und wieder. Ihr Studium niederlegend, hatte es sich die wie verwandelt wirkende Frau angewöhnt, das Herz-Sutra, welches sie vom Oberhaupt der Tibeter gelernt hatte, täglich aufzusagen, um, wie sie mir erklärt, die Luft zu klären.
Auch ich habe mir diese die Seele reinigende Praxis angewöhnt. Mir gegenüber im Korbsessel sitzend, erläutert Giulia die Grundpfeiler des tibetischen Buddhismus, drückt das bunt schillernde Seidenkissen auf ihren Bauch und hebt an, zu einem Monolog. Denn heute wird Dechen, der Interpretator des Dalai Lamas, Giulia dahingehend prüfen, ob sie ihre Lehrbefähigung im Fachbereich Tibetologie erhält. Dechen, der uns gerne in Monasteria besucht, reiste mit dem Dalai Lama um die Welt, vor allem in seiner Funktion als Übersetzer. Giulias persönliche Begegnung mit dem heiligen Mann, die nun beinahe zwanzig Jahre zurückliegt, hinterließ deutliche Spuren. Da der Dalai Lama uns bald verlassen wird, wie Dechen mit Bedauern feststellt, sind seine Schülerinnen und Adepten gefragt, das Erbe des als Gottkönig verehrten Friedensnobelpreisträgers in die Welt zu tragen.
„Heute mehr denn je“, sagt Giulia, während ich Dechen seinen geliebten Buttertee bringe, der in Tibet traditionell mit Yakmilch zubereitet wird. Konzentriert intonieren wir zu Dritt das Herz-Sutra, um unsere Aufmerksamkeit daraufhin Giulia zu widmen.
„Es ist unser Geist, der die Welt kreiert“, zitiert meine Lebensfrau die Worte Buddhas und streicht eine ihrer dunkelbraunen Locken aus dem ebenmäßigen Gesicht. Ach, wie liebe ich die fein gesprenkelten Sommersprossen auf ihrer Nase und den Wangen, denke ich, als Giulia fortfährt:
„Gewissermaßen gleicht die buddhistische Weltsicht der Lehre des Solipsismus. Der zufolge entsteht alles mit den Sinnen Wahrgenommene aus unserem Geist. Und dennoch handelt es sich um Illusionen, um die Schleier der Maya, die sich in dichten Bahnen über unsere Sinneswahrnehmungen legen. Heutzutage leben wir bedauernswerterweise in einer Welt, welche sozusagen die Illusion der Illusion ist, der Abklatsch vom Abklatsch. Einst galt unsere Sinnenwelt als verzaubert, und einzig und allein die in der Meditation wahrgenommene Leere konnte als Wahrheit gedeutet werden. Die Leere, die nicht mit dem Nichts verwechselt werden darf, ist das, was die Erleuchteten, die Buddhas, perzipieren. Im Nirwana erreichen sie, wonach wohl jeder Mensch strebt. Wobei ich bezweifle, dass die Heutigen überhaupt noch eine Vorstellung davon haben, was sie wollen oder wonach sie streben. Die digitalen Sphären nehmen uns gefangen, und es wird immer schwieriger, sich zu befreien und Erlösung oder Erleuchtung zu finden. Unser Denken ist prinzipiell grenzenlos, doch unsere Wahrnehmung ist innerhalb der materiellen Ebene begrenzt. Vermittels Meditation – oder Tod – vermögen wir die Limits von Denken und Wahrnehmung zu überwinden. Der menschliche Geist, die Seele ist ein Teil des größeren Ganzen, der Weltseele. Sie ist uns gegeben, damit wir, Telepathen gleich, in den Ozean der Weisheit eintauchen und schließlich in ihn heimkehren können. Nicht zufällig trägt der Dalai Lama diesen Titel. Denn er, als Reinkarnation des Bodhisattva Avalokiteshvara, des Herrn des Mitgefühls, ist in der Lage, die alltäglichen Wahrnehmungen des gewöhnlichen Menschen zu transzendieren. Wer als Meister der Tugendhaftigkeit mit dieser Fähigkeit beschenkt wurde, der überschreitet auch die Grenzen des Irdischen.“
Dechen, der sein silbrig glänzendes Sakko auszieht und über die Lehne des dunklen Rosenholzstuhls, eines Erbstücks, legt; zeigt sich beeindruckt von Giulias Wissen und der Weisheit, die sie verströmt. Genau wie ich; Wärme breitet sich oberhalb meines Brustbeins aus, ich fühle tiefe Verbundenheit zu meiner geliebten Frau, denn ihr offenkundiges Erreichen der Buddhaschaft erfüllt mich mit Stolz. Ich bin nicht länger mit einem menschlichen Wesen verheiratet, sondern mit einer Bodhisattva, einer Erleuchteten, die auf die Erde zurückgekehrt ist, um den irrenden und blinden, den tauben und ignoranten Menschen dabei behilflich zu sein, aus Samsara, dem Kreislauf von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt auszubrechen, und irgendwann, womöglich erst nach mehreren tausend Leben, ins Nirwana einzuziehen.
Nachdem Giulia die Dozentur für Tibetologie an der Universität von Monasteria zuerkannt worden ist, begeben wir uns zusammen mit Dechen zum See im Zentrum der Stadt. Hier pflanzte der Dalai Lama einst eine Eiche, um an den Westfälischen Frieden zu erinnern. Nicht nur anlässlich der 350-Jahrfeier des den Dreißigjährigen Krieg beendenden Friedenschlusses weilte Tenzin Gyatso, so der Mönchsname des Dalai Lamas, in meiner Heimatstadt. Mehrfach kam er, sportlich gekleidet wie ein typischer Westeuropäer, hierher, um Giulia zu besuchen. Aufgrund seines hohen Alters ist es dem heiligen Mann nicht mehr möglich, weite Reisen anzutreten. So sitzen Dechen, Giulia und ich auf der Bank neben der Eiche und sind in Gedanken bei unserem verehrten Freund, der im indischen Exil in Dharamsala darauf wartet, dass seine leibliche Hülle ihre Funktionen aufgibt und seine Seele freiumherzuschweifen vermag, um einen ehrwürdigen Nachfolger zu finden. Obwohl der Dalai Lama angibt, es könne sich bei ihm, also der vierzehnten Reinkarnation Avalokiteshvaras, um die letzte handeln, sind wir und all seine treuen Anhängerinnen und Gefolgsleute davon überzeugt, dass ein weiterer Dalai Lama auf die Welt kommen wird. Als wir diesen Gedanken diskutieren, wird Giulia ganz still und deutet auf ihren Bauch, der, wie ich zum ersten Mal bemerke, angeschwollen ist.
„Möglicherweise kommt die neue Verkörperung des Dalai Lamas in einer anderen Erdregion zur Welt, nicht zwingend in Tibet oder Indien“, sagt Giulia und wiederholt damit einen Gedankengang des im Sterben Liegenden.
Als sie diese Worte ausspricht, beginnt die Eiche zu schwanken. Donner grollen und Blitze schießen aus einer urplötzlich am Himmel erscheinenden Wolkenfront. Schwere Regentropfen fallen herab, während wir unter dem dichten Blattwerk des Baums Schutz suchen. So unvermittelt wie das Gewitter begann, endet es auch. Ich blicke in Giulias haselnussbraune Augen und sehe einen sich darin spiegelnden Regenbogen. Behutsam ergreift sie meine Hand, um sie auf ihren Bauch zu legen. Sofort spüre ich den leichten Herzschlag.