Schlafen kann ich, wenn ich tot bin

Aus: EXperimenta 05/2025

„Man muss zumindest versuchen zu beschreiben, was man nicht verändern kann.“

Rainer Werner Fassbinder (1945-1982)

Am 31. Mai 2025 wäre Rainer Werner Fassbinder 80 Jahre alt geworden.

„Dreihunderttausend D-Mark Schulden“ sagt Irm vorwurfsvoll, „doch die weiße Corvette musste her…“ Rainer Werner sitzt am Küchentisch, eine Triumph-Schreibmaschine vor sich und drei Flaschen Bier, eine halbvolle und zwei leere. Es ist ein ungewöhnlich warmer Oktobertag in Schwabing, die Hitze steht in der 100 Quadratmeter-Wohnung, wo das Genie momentan residiert. Das Genie und Teile seines Clans, Irrlichtern gleich stetig wechselnd, bis auf die ihm ganz nahe Stehenden, wie Irm, Armin, Juliane und Lieselotte, seine Mutter, leben hier, im an der Isar gelegenen Münchener Stadtteil. Neuerdings experimentiert Rainer Werner mit der Lebensform einer Zweier-WG, hat die Kommune hinter sich gelassen. Armin bezeichnet er als seinen Mann, doch das Zusammenleben gestaltet sich alles andere als einfach. Auch wegen der deutlichen intellektuellen Unterschiede, wie sein Umfeld behauptet. Armin, ein eher schlichtes Gemüt, gelernter Metzger, liebt Rainer Werner und umgekehrt. In der Reichenbachstraße 12, schräg gegenüber vom Hotel Deutsche Eiche, seiner Stammkneipe, fliegen häufig die Fetzen. Das Paar prügelt und liebt sich, auf Küsse folgen Faustschläge. So ist das nun einmal. Schwitzend hackt Rainer Werner Zeilen in das weiße Papier, mit dem bewährten Zweifingersystem. Trotz der gefühlten 30 Grad Celsius nimmt er das Lederkäppi nicht ab. Schweißrinnsale entspringen ihrem Quell, seinem dichten, glatten und völlig verfetteten Haupthaar, das ungeschnitten und ungepflegt unter der Kopfbedeckung hervorlugt. Michael, später weltberühmter Kameramann bei großen Scorsese-Produktionen, hält das Objektiv auf den bärtigen Kerl mit der aufgequollenen Nase, in deren Löchern weißliche Pulverreste kleben. Rainer Werner nimmt einen weiteren großen Schluck vom Weißbier, entzündet die zwanzigste Zigarette, obwohl es erst halb acht Uhr morgens ist und er so gut wie gar nicht geschlafen hat. Bis fünf arbeitete er an einem Drehbuch für den dritten Teil seiner BRD-Trilogie, die den Titel „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ trägt. Rosel, wie ein verzaubertes Abbild Marlene Dietrichs wirkend, spielt die Hauptrolle. Sie stellt Veronika dar, einen gealterten UFA-Star, einst von Goebbels protegiert, morphiumabhängig und ohne Rollenangebote, der von einer skrupellosen, diabolischen Nervenärztin, Dr. Katz, ausgebeutet wird. Katz, deren Existenz darauf beruht, reiche Münchener mit Drogen zu versorgen und auf diesem Wege an ihr Vermögen zu kommen, hält die frühere Diva gefangen, weil sie es auf deren Starnberger Villa abgesehen hat, unter anderem. Interpreten zufolge handelt es sich bei der Hauptfigur des in dezentem Schwarzweiß gehaltenen Film um den Regisseur selbst. Im Rahmen ihres letzten Interviews erklärt die aufgrund ihrer politischen Vergangenheit als Persona non grata geltende Schauspielerin, dass sie Angebote von den großen Hollywood-Studios, Metro-Goldwyn-Mayer und Universal erhalten habe, und nach Amerika gehen werde. Kurze Zeit später stirbt sie an einer Überdosis Schlaftabletten. So endet der Film. Die Parallelen zu Rainer Werners Ende sind tragischerweise eindeutig. Auch er plante mit seiner letzten Frau Juliane, in die USA zu gehen. Oder schob er das nur vor, weil er ohnehin wusste, dass die Reise, seine Reise, vorbei war? Zu den Dreharbeiten von Berlin Alexanderplatz, einer Verfilmung des Romans von Alfred Döblin, hatten schon viele Ketzer gerufen, dass Rainer Werner die schier übermenschlichen Anforderungen nicht würde schultern können, so labil wirkte er bereits im Jahre 1980. Dann kam er ans Set, sagte: „Bitte!“ Und es war, als sei er wieder der energische, überhebliche junge Mann, der er zu Zeiten des antiteater [sic!] gewesen war. Er strotzte vor Virilität und arbeitete den epochemachenden, monumentalen Roman Kapitel für Kapitel ab. Szene für Szene.

Etwa drei Jahre zuvor sitzt Rainer Werner mit Lilo, seiner Mutter, am Tisch und befiehlt Armin, seinem Liebhaber, zum Trafohäuschen zu gehen, wo er die Drogen aufbewahrt. Als Armin zurückkommt und berichten muss, dass das Depot leer ist, bekommt Rainer Werner einen Wutanfall sondergleichen. Er steckt die aufgerauchte, aber noch glimmende Marlboro an der nächsten an und haut mit der Faust auf die gebeizte Holzplatte, so dass Flaschen und Aschenbecher klirren. Lilo dringt in ihn, er solle sich doch beruhigen.

Sie schlägt ihm vor, an dem Drehbuch weiterzuarbeiten. „Diktiere mir“, sagt sie vorsichtig, „ich werde tippen“.

„Gleich“, entgegnet ihr der Sohn widerborstig. Vor ihren Augen – und natürlich vor den Augen aller Anwesenden, d.h. des gesamten Filmteams – zieht er sich vollständig aus, geht ins Bad. Man hört ein Schnaufen, Michael schaltet seine Kamera für einen kurzen Moment ab. Tropfend und mit nassem Haar kommt Rainer Werner von der Toilette, herrscht den Kameramann an: „Warum filmst du nicht?“ Hörig wie ein Lamm pariert Michael. Was folgt, ist eine Improvisation, mittlerweile ein legendäres Stück Filmgeschichte, das in dieser Form und Qualität nie wieder erreicht wurde. Deutschland im Herbst lautet der Titel des Projekts, an dem auch die Regisseure Volker und Alexander beteiligt sind. Es geht um die Rote-Armee-Fraktion, und ihre Morde und Entführungen. Volker erzählt Jahrzehnte später, dass er, als er Rainer Werners Filmdokument zum ersten Mal sah, schockiert gewesen sei. Das könne man so nicht zeigen, habe er damals gedacht. Doch Alexander sei sofort überzeugt gewesen, von der exorbitanten Bedeutung von Rainer Werners Beitrag, seinem ganz individuellen Kommentar zum Deutschen Herbst im Jahre 1977.

Rainer Werner hockt nackt auf dem Küchenboden, in einer Ecke, telefoniert, greift sich immer wieder in den Schritt, wie ein Kleinkind. Der Regisseur hat seinen Dealer an der Strippe, doch der kann nichts für ihn tun. „Ich habe nichts, momentan. Es herrscht Ebbe.“ Rainer Werner wird noch wütender, wirft den Hörer aufs Parkett, wo sich eine Delle bildet. Er wickelt das Telefonkabel um seinen Finger, tritt nach einer Pulle, die klirrend über den Fußboden rollt: „Ich kann so nicht arbeiten!“

Dann: Ein Schnitt. Rainer Werner sitzt rauchend und Radio hörend am Küchentisch. Manchmal murmelt er etwas vor sich hin, und Lilo gibt die enigmatischen Befehle ihres Sohns in die Schreibmaschine ein. Im Radio wird über die Entführung des Lufthansa-Passagierflugzeuges „Landshut“ berichtet. Die Boeing steht an diesem Oktobertag auf dem Rollfeld in Mogadischu und Terroristen halten die Insassen als Geiseln fest, um die RAF-Gefangenen im Gefängnis Stammheim freizupressen. Baader, Ensslin und Raspe. Ulrike Meinhof starb bereits ein Jahr zuvor.  

Ein Disput entsteht. Lilo plädiert dafür, die Stammheimer Gefangenen nach und nach hinzurichten, und vertritt damit eine radikale Position, die in jener Zeit viele Deutsche bezogen hatten. Das Genie legt sich eine Line auf einem runden Taschenspiegel. Armin hatte doch noch etwas besorgen können. Zu seinem Glück. Rainer Werner drückt die scharfe Rasierklinge in die weißen Kristalle, wieder und wieder. Manisch. Und voll froher Erwartung. Er genießt und feiert dieses Ritual. Dann arrangiert er das Pulver in zwei parallelen Geraden, greift nach einem Plastikstrohhalm und zieht das süchtig machende Gift in die Nasenlöcher. Zuerst das rechte, dann das linke. Balance.

Mutter und Sohn streiten sich, schreien und keifen. Armin hält sich im Hintergrund. Michael filmt jede Geste, verleiht Mimik und Dynamik Schattenwürfe, oder rückt sie ins Licht. Im Zentrum stets das Gesicht des Genies, das eine unglaubliche Geschichte erzählt, ohne Worte. Wortfetzen, zerrissene Dialoge stehen im Raum. Der Tonmann zeichnet alles auf.

***

Die Schwabinger Wohnung, die sich Rainer Werner und Armin teilten, wird bald zu einem Mausoleum, der Grabeskammer einer ägyptischen Pyramide gleichend. Denn Armin nimmt sich das Leben. Die Obduktion ergab: Mischvergiftung. Heroin, Kokain, Schlaftabletten, Alkohol, Amphetamine. Rainer Werner kommt nicht zur Beerdigung und wird die Wohnung nie wieder betreten. Mit Die Sehnsucht der Veronika Voss gewinnt er zum ersten Mal den Goldenen Bären auf der Berlinale 1982. „Mein Lebensstil hat mich hierhergeführt, es konnte keinen anderen Weg geben“, sagt Fassbinder in einem Interview aus demselben, seinem Todesjahr. Er spielt noch eine Hauptrolle, in dem futuristischen Film Kamikaze ´89, als „Alkoholiker dritten Grades“. Bei der Realisierung seines letzten Projekts, der Verfilmung von Jean Genets Roman Querelle, fällt er vom Stuhl. Mischvergiftung. Kokain. Schlaftabletten. Alkohol. Er wird 37 Jahre alt.

rainer werner fassbinder

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