Von den Grenzen der Wahrnehmung
Nachtumweht
Erzählungen von Jens-Philipp Gründler
mit Zeichnungen von Michael Blümel
Der Titel lässt Geheimnisvolles erwarten und erschließt sich im Detail erst im Verlauf der Lektüre. „Nachtumweht“ lässt Raum für eigene Vorstellungen in der eigenen Wahrnehmungswelt. Nachts wird geliebt, verprügelt, geträumt, gemordet, im „Normalfall“ geschlafen. Die Nacht verschleiert und lässt vermeintlich reale Welten in Dämmerung und Dunkelheit versinken.
Jens-Philipp Gründler gelingt fantastisch, diesen Titel auf seine geschilderten Charaktere, auf handelnde, wahrnehmende Figuren zu übertragen und diese in scheinbaren Zwischenwelten lebendig werden zu lassen. Gründlers Kurzprosa ist geprägt von philosophischen und existenziellen Fragen, die immer wieder Antworten auch im Transzendentalen suchen. Die mitreißend geschilderten Schicksale leben, ja überleben den täglichen Exitenzkampf und bewegen sich am Rand der Mainstreamgesellschaft. Gründler interessieren die Minderheiten, die Nichtbeachteten, die Ausgestoßenen und lässt sie mal humorvoll, mal tragisch agieren. Überzeugend, dabei unaufdringlich dargestellt, ist die Heilkraft der Liebe! Ob Cynthia es schafft, ihren einstigen Peiniger durch die Liebe in die Knie zu zwingen oder ob im „Jüngsten Tag“ ein radikales Statement zur Liebe abgegeben wird – es erzeugt ein Schmunzeln und ein Wohlbehagen angesichts der Gräuel, die in der realen Welt vermittelt werden. So kann auch „No future – no past“ trösten. Eine meiner Lieblingsgeschichten.
In der zentralen Erzählung „Das zweite Gesicht“ wird der Titel zum Programm. Mit der Geschichte des langen Lebens der einflussreichen Künstlerin Elvira Seel, einer außergewöhnlichen Frau mit Tiefgang und Herz, greift Jens-Philipp Gründler ein Tabuthema auf: Die unselige Geschichte der mörderischen Behandlungen in der Psychiatrie in der Nazizeit und ihrer Entwicklung bis heute. Diese essayistische Erzählung rüttelt auf und sollte im Gedächtnis bleiben. Gründler versteht es überzeugend, die Wahrnehmungswelt Elviras zu schildern und diese in notwendige Erkenntnisse zu übersetzen. Elviras Ausdruck ist die Kunst und die Literatur, mit der sie unbeirrt an die Öffentlichkeit tritt und damit erfolgreich ist. Ein kleines Wunder, wurden und werden die psychiatrisch Kranken doch als Außenseiter, als nicht in dieser Welt lebend wahrgenommen und behandelt.
Michael Blümels beeindruckende Zeichnungen ergänzen und begleiten diese Geschichten kongenial, denn auch sie erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Man muss genau hinschauen, wie auf die Charaktere, die Jens-Philipp Gründler zum Leben erweckt. Auf den ersten Blick dunkel, undurchsichtig, nicht durchschaubar – wie die Figuren der Zwischenwelten. Und dann doch voller Hoffnung und Farbe, wie die wunderbare Geschichte „Das Herz-Sutra“, die eine (Er-) Lösung erahnen lässt. Mag sein, dass manche der geschilderten Figuren undurchsichtig, im Verborgenen agieren, doch gerade deshalb bleiben die Geschichten nachtumweht.
Genau darin liegt ihr Charme und ihr Geheimnis.
Dr. Annette Rümmele, Rezension
